Ein Mensch namens Jesus
Verzweifelten Jesus folgen?« wollte Esra wissen.
»Ihm oder einem anderen«, erwiderte Nikodemus.
»Was schlägst du vor?« fragte ihn Hannas.
»Daß wir der Lage mit praktischen Maßnahmen begegnen«, antwortete er.
»Das ist Sache der Römer«, entgegnete Hannas. »Unsere Machtbefugnis ist rein religiöser Art. Wir können nur entscheiden, ob Jesus der Messias ist oder nicht und ob er gegen das Gesetz verstößt oder nicht.«
»Es war also sehr klug von Josef, uns einzuberufen«, bemerkte Nikodemus.
»Aber dieser Jesus verstößt doch gegen das Gesetz, oder?« erkundigte sich Esra.
»Nicht daß wir wüßten«, meinte Gedalja.
»Aber all die Gerüchte über seine messianische Berufung?«
»Uns wurde niemals zugetragen, daß ersieh selbst so bezeichnet. Ganz im Gegenteil, er scheint sich dagegen zu wehren. Jokanaan, ein ehemaliger Essener, hat dieses Märchen in die Welt gesetzt. Er wurde ins Gefängnis geworfen, was die Gerüchte aber keineswegs zum Verstummen brachte.«
»Wer verbreitet sie denn?« fragte Nikodemus.
»Das Volk; höchstwahrscheinlich wird es von Jesus’ Jüngern dazu angestachelt«, antwortete Gedalja.
»Na, dann lassen wir sie eben von der Tempelpolizei festnehmen«, schlug Esra vor. »Dieses Recht haben wir!«
Gedalja zuckte mit den Achseln, und Nikodemus lächelte.
»Meiner Ansicht nach wäre es unklug, so zu handeln«, erwiderte Hannas. »Sobald wir einen Jünger festnehmen, um ihn abzuurteilen, wird die ganze Angelegenheit noch weiter hochgeschaukelt. Und welches Urteil könnten wir denn schon über den Mann fällen? Das Todesurteil gewiß nicht. Und auch keine Gefängnisstrafe, denn wir können einen Menschen unmöglich allein aufgrund der Tatsache verurteilen, daß er an den Messias glaubt und diesen in Jesus sieht.«
»Wenn dem so wäre, müßten nämlich auch Schriftgelehrte ins Gefängnis«, bemerkte Josef von Arimathäa.
»Wir haben außerdem nicht einmal mehr die Macht, das Todesurteil über einen Menschen zu sprechen, zumindest nicht ohne die Zustimmung der Römer«, warf Nikodemus ein.
»Doch, die haben wir!« widersprach Esra.
»Reines Wunschdenken ist das!« sagte Nikodemus scharf. »Wir müssen schließlich über unsere Entscheidungen Rechenschaft ablegen.«
»Dank der Initiative Josefs von Arimathäa werden wir demnach über eine Sachlage aufgeklärt, die sich in wenigen Worten zusammenfassen läßt: Wir sind auf Gedeih und Verderb der Willkür eines galiläischen Aufwieglers ausgeliefert!« schloß Esra.
Hannas rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her, als suche er vergeblich nach einer bequemen Stellung.
»Ich bin froh, wenn ich das einmal so sagen darf, daß euch der Stand der Dinge bewußt wird«, sagte er. »Bevor wir die Sitzung schließen, möchte ich betonen, daß ich persönlich die Möglichkeit, Jesus könne die Schechina empfangen haben und der Messias sein, zurückweise. Dieser Mann ist in Wirklichkeit ein Feind. Sollen wir über diesen Punkt abstimmen?«
»Unsere Versammlung hier war nicht von vornherein als offizielle Sitzung geplant«, gab Gedalja zu bedenken. »Es ist unmöglich, jetzt sofort die Schreiber herbeirufen zu lassen.«
»Außerdem können wir nicht über einen Fall abstimmen, der nicht näher untersucht wurde«, räumte Nikodemus ein, »auch wenn der Hohepriester da anderer Meinung zu sein scheint. Wir verfügen nicht einmal über einen Bericht der Tempelpolizei. Der Hohe Rat darf nicht abstimmen, wenn er im dunkeln tappt.«
»Jedenfalls«, meinte Gedalja, »hat Nikodemus uns dargelegt, daß zumindest die von den Propheten beschriebene Ankunft des Messias nicht auf Jesus paßt.«
»Ich habe jedoch nicht gesagt, daß der Herr nicht auch Absichten hegen kann, die uns verborgen bleiben«, fügte Nikodemus hinzu. »Josefs Frage bleibt folglich unbeantwortet: Wir wissen nicht, ob Jesus die Schechina zuteil wurde und ob er der Messias ist. Aber beides könnte trotzdem zutreffen.«
»Könnte er der Messias Israels sein, ohne der Aarons zu sein, und umgekehrt?« erkundigte sich Nikodemus bei Josef von Arimathäa.
»Ja, das ist möglich, aber unwahrscheinlich.«
»Und wenn es so wäre?« rief Hannas, nun plötzlich höchst erregt, aus. »Was müßten wir tun? Ich bitte euch, doch einmal die Folgen zu bedenken: Ich ginge zu Jesus hin und übertrüge ihm die oberste Macht über den Tempel und alle religiösen Einrichtungen des Landes. Ja, glaubt ihr denn, daß Herodes und Pontius Pilatus diese unglaubliche Machtübergabe, ohne
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