Ein Mensch namens Jesus
Auslegung der Bücher zur Ankunft des Erlösers erinnern«, sprach er in ernstern Ton mit immer noch gesenktem Kopf, was seine Worte schwer verständlich machte. Das war seine übliche Taktik, und sie hatte noch nichts von ihrer Wirksamkeit eingebüßt, denn alle Versammelten hielten den Atem an, um nur ja keine Silbe aus dem Mund des Greises zu verpassen. »Es steht fest«, fuhr er fort, »daß die Propheten seine Ankunft angekündigt haben. Ezechiel tat dies mit folgenden Worten: >Dann werde Ich neue Zweige aus Israel hervorsprießen lassen, und Ich werde euch die Macht verleihen, zu seinen Menschen zu sprechen, und sie werden wissen, daß Ich der Herr bin.< Daraufhin beschreibt Ezechiel die Niederlage aller Feinde Israels. Auch Jesaja verkündet den Einzug des Messias in unser Land nach der Vernichtung der Heiden. Das ist nicht eingetreten. Das Buch Jesus Sirach kündigt an, daß der Reichtum der Welt nach der Ankunft des Messias nach Israel zurückfließt. Auch diese Vorhersage ist nicht eingetroffen. Im >Deuteronomium< steht geschrieben, daß >sich in Jeschurun ein König erheben wird, wenn die Anführer des Volkes mit allen Stämmen Israels versammelt sind<. Und auch das ist nicht eingetreten, ganz im Gegenteil. Mehrere Tage wären vonnöten, wollte man alle Textstellen der Bücher aufgreifen, in denen vom Messias die Rede ist und die folglich die Hoffnung auf sein Kommen erweckt haben; etliche Sabbate würden verstreichen, bevor diese Bestandsaufnahme vollendet wäre, aber wir würden keine einzige Passage finden, die sich auf jenen Galiläer namens Jesus bezöge. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«
Josef von Arimathäa stand auf, um sich Wasser einzuschenken. Die anderen hingen ihren Gedanken nach.
»Ich würde dem gern etwas hinzufügen«, meldete sich schließlich Esra zu Wort. »Es findet sich nicht nur keinerlei Hinweis in den Büchern, der auf diesen Mann namens Jesus zutreffen könnte, sondern zudem wird uns berichtet, daß ebendieser Mann Umgang mit Prostituierten pflegt. Der Messias jedoch wird, wie wir alle wissen, sowohl König als auch Hoherpriester sein. Und wir, sollen wir allen Ernstes einen König und Hohenpriester mit ungewisser Herkunft erwarten, der obendrein mit leichten Mädchen verkehrt?«
Josef von Arimathäa stieß einen Seufzer aus und murmelte: »Ich hoffe, nicht nur für dich, Esra, sondern für uns alle, daß Jesus nicht der Messias ist.«
»Jedenfalls steht fest«, bemerkte Nikodemus, »daß Jesus derzeit einer der bedeutendsten Männer Israels ist, einerlei, ob er nun als Messias anerkannt wird oder nicht.«
»Meinst du das im Ernst?« fragte Gedalja skeptisch.
»Ja, es ist mein voller Ernst. Dieser Mann verkörpert alle Umbruchshoffnungen, die in unserem Lande gären.«
»Welcher Umbruch?« fragte Hannas gereizt.
»Ich bin nicht der Wortführer derer, die eine solche Änderung herbeisehnen«, entgegnete Nikodemus, »aber ich weiß, wie viele meiner hier anwesenden Ratsbrüder, daß sich in Israel Unzufriedenheit ausgebreitet hat. Jesus könnte sehr gut der Anführer eines nicht mehr fernen Aufstandes sein. Und die gelehrtesten Betrachtungen zu einem religiösen Thema werden leider nicht viel an der herrschenden Unordnung ändern.«
»All das ist doch maßlos übertrieben«, meinte Levi ben Pinhas. »Nein«, widersprach Nikodemus ben Bethyra, »es herrscht wirklich Unzufriedenheit im Land. Aus Angst vor einem möglichen Aufruhr wagten wir ja nicht einmal, Jesus nach seinem Angriff auf die Händler vom Tempelbazar zu verfolgen.«
»Wir wollten Unfrieden innerhalb des Tempelbezirkes vermeiden, das ist der einzige Grund«, entgegnete Gedalja.
»Ihr wolltet keinen Aufstand, weder im Tempel noch sonstwo«, gab Nikodemus zurück.
»Du hast von einem Aufruhr in naher Zukunft gesprochen«, schaltete sich Hannas, zu Nikodemus gewandt, ein, »aber du weißt doch, daß das, so wie die Lage derzeit aussieht, nur zu einem Blutbad führen kann.«
»Unser erhabener Meister hat recht«, erwiderte Nikodemus mit kaum wahrnehmbarem Spott in der Stimme, »aber wenn alle seiner Meinung wären, dann hätte ein großer Aufstand allen Aufständen und aufrührerischen Plänen längst ein Ende gesetzt.«
»Was soll das heißen?« fragte Hannas.
»Daß sich nicht alle von der Unterdrückung durch die Römer abschrecken lassen«, antwortete Nikodemus.
»Es gibt also viele Narren in Israel«, meinte Hannas.
»Es gibt viele Verzweifelte«, entgegnete Nikodemus.
»Und du glaubst, daß die
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