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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Messadié
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die verwaiste Tochter von Anna und Joachim. Die Eltern hatten seinem Stamm, dem Stamme Davids, angehört. Und er, Josef, hatte mit seinen neunundachtzig Jahren das Leben friedlich zu beenden gedacht, sich gewünscht, allmählich und sanft zu verlöschen, bis der Tod ihn ins Licht des Herrn davontrug. Doch der Hohepriester hatte ihn eines schönen Tages zu sich berufen, um ihm zu sagen, daß Maria, nachdem sie weder ein Heim noch Eltern hatte, die sich um sie kümmern konnten, einem Vormund anvertraut werden müsse. Und der Hohepriester hatte dabei an Josef gedacht, denn, so deutete er an, Josef sei nicht nur ein Mann von Prinzipien, sondern auch über das Alter der Fleischeslust hinaus. Josef hatte sich auf der Stelle gesträubt. Er verfügte nicht mehr über die Kraft, um auf ein Mädchen im heiratsfähigen Alter aufzupassen, noch dazu ohne den Beistand einer Frau im Hause, einer erfahrenen Frau, versteht sich, um dem Einfallsreichtum der zarten Jugend vorzubeugen. Außerdem gab es keine Kinder, die man dem jungen Ding hätte anvertrauen können, um es zu beschäftigen. Ja, einen Ehemann würde er ihr auch noch finden und sich erneut mit Mitgiftjägern herumärgern müssen. Nein, von solchen Bürden wollte er nichts wissen. Er hatte seine Pflicht getan und sechs Kinder gezeugt, davon vier Knaben — Jakobus, Justus, Simon und Judas — und zwei Mädchen, Zwillinge — Lydia und Lysia. Obendrein waren nun Lydia und Lysia sowie Jakobus und Justus verheiratet, nicht aber Simon und Judas. Und diese beiden lebten unter dem väterlichen Dach. Simon war sechsundzwanzig, Judas vierundzwanzig Jahre alt. Zwei junge Männer in diesem Alter und ein heiratsfähiges Mädchen gefahrlos in einem Haus zusammenleben zu lassen, das sollte ihm erst einmal einer vormachen! Der Hohepriester mußte den Verstand verloren haben! Ohne zu wissen, wie es geschah, würde diese Maria geschwängert sein, noch bevor sie sich unter seinem Dache die Haare gewaschen hatte. Er hatte Mädchen diesen Alters erzählen hören, Kinder könne man bekommen durch zu intensiven Augenkontakt oder gar durch ein Bad in einem Becken, in das zuvor ein Mann gestiegen war. Ihre Mütter erklärten ihnen später die Geheimnisse des Geschlechtsaktes. Dann hörten die jungen Dinger auf, solchen Unsinn zu reden, und wurden rot bis unter die Haarwurzeln, sobald sie nur einen Mann von weitern sahen. Doch Maria hatte keine Mutter, um sie aufzuklären, und wenn er auch eine Matrone hätte finden können, die ihr das Wesentlichste beibringen konnte, so würde ihm doch das Risiko bleiben, sie mit Simon und Judas unter einem Dach schlafen zu lassen. Er, Josef, wäre es dann, der kein Auge mehr zumachen könnte. Gewiß, Simon und Judas waren brave und, wie es sich gehörte, im Respekt vor den Zehn Geboten erzogene Burschen. Wer aber vermag die Wege des Bösen zu ergründen? Dieser wollüstige Geist war ewig bereit, junge Seelen in seinen Bann zu schlagen und das appetitliche Fleisch der Jugend zu verführen.
    Ja, all diese Gefahren hatte er bedacht, und der Gedanke an sie war ganz besonders ihm unerträglich, da er nicht nur Priester, sondern auch ehemaliger Nazarener war, und zwar einer der angesehensten dieser alten, für ihre Sittenstrenge bekannten Pharisäersekte. In jungen Jahren hatte er sich während der gesamten Dauer seines Gelübdes — drei Jahre lang — enthalten, sich die Haare zu schneiden, Wein zu trinken sowie Frauen und Leichnamen nahe zu kommen. Jedermann wußte das. Deshalb hatte ihn auch der Hohepriester einen »Mann von Prinzipien« genannt. Als das Gelübde dann abgelaufen war, hatte er seine Haare abgeschnitten und auf dem Altar verbrennen lassen, doch wer einmal Nazarener war, blieb es sein Leben lang. Immer noch fühlte Josef sich dieser Sekte zugehörig, der er auch bis zu seinem letzten Atemzug ergeben bleiben würde.
    Den Tod hatte er sich bisher immer als eine Wolke am Ende einer steilen Straße vorgestellt, als eine wohltuende, schicksalhafte Frische, in der sich der Körper auflöst und die Seele entschwebt. In dieser Wolke hatte er seine Frau wiederfinden wollen, die nach fünfundvierzig Jahren treuer Ehe und Pflichterfüllung vor drei Jahren verstorben war. Doch nun erschien ihm der Tod wie eine hinausgezögerte Belohnung. Das Schicksal — oder war es Gott? — hatte den Einsatz erhöht: Noch nicht, Josef, noch nicht. Du wirst vor dem letzten Schlaf noch zu leiden haben. Er seufzte, und der nächtliche Wind seufzte mit ihm. Die Erinnerungen

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