Ein Mensch namens Jesus
daß das Kind unbedingt außerhalb von Jerusalem zur Welt kommen mußte. Es gab einen ausgezeichneten Vorwand, um die Stadt zu verlassen: das Volkszählungsdekret, das in ganz Palästina verkündet worden war. In seiner Eigenschaft als Stammesoberhaupt durfte sich Josef einer öffentlichen Pflicht nicht entziehen. Und da seine Familie aus Bethlehem stammte, wollte er sich dort eintragen lassen.
Marias Schwangerschaft war bereits in überaus fortgeschrittenem Stadium, wenn auch niemand sagen konnte, wann sie begonnen hatte.
Doch Bethlehem lag nur eineinhalb Wegstunden von Jerusalem entfernt. Wenn man diese kurze Strecke auf dem Esel in gemächlicher Gangart zurücklegte, würden die Strapazen kaum über Marias Kräfte gehen.
»Paßt mir auf das Haus auf!« hatte er zu seinen Söhnen gesagt. »Ich muß für ein paar Tage verreisen.« Bei dieser Gelegenheit war es geschehen, daß Judas mit unvermuteter Ängstlichkeit plötzlich gefragt hatte: »Und das Kind?« Diese drei Worte hatten Josef wie ein Faustschlag in den Magen getroffen. Im Boden zwischen ihm und Judas hatte sich ein Abgrund aufgetan. Auf der einen Seite stand er, und dort drüben, weit drüben, stand Judas mit brennendroten Wangen, in denen das Blut pulsierte, das ihm die Frage eingegeben hatte. Langsam, sehr langsam hatte Josef geantwortet: »Es ist jetzt mein Kind und dein Bruder.« Dann hatte er den Esel gesattelt, der Dienstmagd befohlen, für Maria ein Bündel Kleider zusammenzupacken, und sich auf den Weg gemacht. Maria hatte die ganze Zeit über kein Wort gesprochen, bis sie bei ihrer Ankunft in Bethlehem die ersten Wehen verspürte. Es wurde Abend. Josef versuchte, in einer Herberge ein Zimmer zu finden, denn irgendwelche Verwandte wollte er gerade jetzt um keinen Preis sehen. Doch vergebens. Da die Zeit drängte, nahm er das Angebot eines Bauern an, in dessen Stall zu übernachten, und er machte sich auf die Suche nach einer Hebamme.
In dieser Kälte werde ich mir noch den Tod holen, dachte er bei sich, um so besser. Einen Augenblick später stieß die Hebamme mit dem Fuß die Tür auf und sagte, es sei ein Junge. Er trat in den Stall und beugte sich über das verknautschte rosige Etwas, das, in eine Windel gewickelt, neben Maria lag. Nein, es war kein Ungeheuer, sondern ein kleines Menschenkind.
»Faß ihn einstweilen noch nicht an«, wurde er von der Hebamme angewiesen.
Danach hatte er auch nicht das geringste Bedürfnis. Als er sich zur Hebamme umdrehte, um sie zu bezahlen, murmelte sie irgend etwas vor sich hin. Vielleicht ein Gebet oder eine Teufelsbeschwörung. Sie hatte es eilig zu verschwinden, und Josef blieb mit Maria, dem Esel und der Kuh allein zurück. Er suchte ihren Blick; sie sah ihn mit völlig ausdruckslosem Gesicht an, oder preßte sie nur die Zähne zusammen, um einen Schrei der Auflehnung zu unterdrücken?
»Geht es dir gut?« fragte er sanft.
Kaum spürbar nickte sie mit dem Kopf.
»Hast du Hunger?«
Sie sagte nicht nein, also ging er beim Bauern ein paar Nahrungsmittel kaufen. Sie knabberte ein wenig an den Sachen herum und schlief dann ein. Er selbst war völlig übermüdet. Er streckte seine schmerzenden Glieder im Stroh aus und dämmerte in den Schlaf hinüber, wobei ihn noch im letzten Schimmer klaren Bewußtseins der Gedanke streifte, daß er ja weder für das Kind gebetet noch es gesegnet hatte. Drei Tage blieben sie in dem Stall, dann nahm er das sorgsam eingemummte Kind und ließ es in der Synagoge von Bethlehem eintragen. Er nannte den Knaben Jesus, nach dem Hohenpriester, der seinen Erstgeborenen beschnitten hatte, und auch weil dieser Name die moderne Form des alten Namens Josua war und »Jahwe ist Rettung« bedeutete. Hierauf zahlte er den von den Römern geforderten Zehnten. Am nächsten Tag machte er sich mit Maria und dem Kind auf den Heimweg.
Vorschriftsgemäß befolgte Josef alle Riten, die mit einer Geburt zusammenhingen. Am achten Tag, nachdem Jesus geboren war, brachte er ihn in den Tempel, um ihn beschneiden zu lassen. Nach Marias Reinigung als Wöchnerin, die vierzig Tage nach der Niederkunft stattfand, nahm er ihn erneut mit in den Tempel, um ihn dem Herrn zu weihen. Ansonsten jedoch sah man Josef im Tempel nicht mehr, auch wenn er mit dem einen oder anderen Priester noch auf freundschaftlichem Fuße stand.
Nachdem der Sturm vorüber war, wunderte er sich über seine Widerstandskraft. Im Laufe der schweren Tage, die dem Urteilsspruch des Gerichts vorausgegangen und gefolgt waren, hatte er
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