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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Messadié
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oft geglaubt, an gebrochenem Herzen sterben zu müssen. Doch schien die Schicksalsprüfung ganz im Gegenteil verborgene Energien in ihm wachgerufen zu haben. Ein- oder zweimal begegnete ihm auf der Straße der Schriftgelehrte Hannas, der sich über seinen munteren, forschen Gang wunderte. Neunzig Jahre alt und lebendig wie ein Fisch im Wasser! Und außerdem rachsüchtig: Als das Klatschweib mit dem Eulengesicht, das die Neuigkeit von Marias Schwangerschaft verbreitet hatte, einmal an einem Sabbat Wäsche aufhängte, ließ er sie von der Tempelpolizei verhaften und eine Strafe bezahlen. Das wirkte als Abschreckung, denn daraufhin hielten all jene, die sich zu gewagten Mutmaßungen über die wahre Identität von Jesus’ Vater hatten hinreißen lassen, lieber ihre Zunge im Zaum.
    Doch nun war es das energische Wiederaufleben der Lebensgeister Josefs, das vor allem im Tempel Gerüchten neue Nahrung gab. Von Hannas bis hin zum Hohenpriester beobachtete man besorgt nicht nur die neugewonnene Vitalität des alten Rabbi, sondern auch gewisse Machenschaften, auf die er sich einzulassen schien. Beispielsweise knüpfte er seine Verbindungen zur Bruderschaft der Nazarener wieder enger, und er machte niemandem gegenüber ein Hehl daraus, daß er in diesen eine umstürzlerische religiöse und politische Gegenpartei zu den Sadduzäern und dem Clan der die obere Verwaltungsebene beherrschenden Pharisäer sah.
    »Was mag er wohl im Schilde führen?« fragte sich der Hohepriester,; der Josef sehr schätzte und es nur allzugern gesehen hätte, wenn die alten Zwistigkeiten ein für allemal begraben worden wären. »Und welche Ränke werden hier geschmiedet?« Eine schwierige Frage, denn in den Untergeschossen des Königreichs war in den Kesseln der Habsucht, des Ehrgeizes und des Argwohns immer irgendeine Suppe am Brodeln.
    Josef also hatte sich erneut in Aktivitäten gestürzt. Er fand kaum Zeit, sich um die junge Frau, welche die seine war, oder um seinen fünften Sohn zu kümmern. Als die ersten Schneefalle die Palmen und Olivenbäume um Jerusalem überzuckerten, kam die Dienstmagd eines Morgens, um ihm zu berichten, daß es im Zimmer von Maria zu kalt sei und daß sie um die Gesundheit des Kindes fürchte. Er befahl ihr, die beiden unbenutzten Feuerbecken, die sich im Schuppen hinter der Küche befanden, mit Holz zu füllen und sie in Marias Zimmer zu bringen. Da die Becken schwer waren und außer ihm im ganzen Haus kein Mann war — Simon und Judas hatte er inzwischen im Haushalt eines verheirateten Sohnes aufnehmen lassen — , half er der Dienstmagd beim Tragen. Als er das Zimmer betrat, stillte Maria gerade das Kind.
    Er war ergriffen, als sähe er sie beide zum erstenmal. Er versuchte, seine Gefühle zu unterdrücken, doch das Mitleid und die Erinnerung an seine verstorbene Frau erweichten sein Herz.
    »Geht es dir gut?« fragte er sie zum erstenmal seit jener Nacht im Stall.
    »Es geht schon«, antwortete sie und beobachtete dabei die Dienstmagd, wie sie Reisig im Feuerbecken zurechtlegte.
    Ein Seufzer, nahezu ein Schluchzen, stieg in Josefs Brust auf. Er hätte gerne noch etwas gesagt, aber es gelang ihm nicht, und er verließ den Raum.
    Eines Morgens fanden die Nachbarn Tür und Fensterläden von Josefs Haus verschlossen. Als die Milch- und Gemüsehändler an die Tür pochten, hallte ihnen nur die Leere des Hauses entgegen. Der Esel war nicht mehr im Stall und die Dienstmagd nirgends zu finden. Ein wenig später kamen Leute von Herodes’ Polizei — nicht der des Tempels — , um nach dem alten Priester zu forschen, doch sie erhielten kaum Auskunft, außer daß am Abend zuvor das Haus noch bewohnt gewesen sei, denn man habe die Magd einen Bottich in den Rinnstein leeren sehen. Dennoch war Josef mit Frau und Kind in der Nacht verschwunden. Niemand wußte, wohin. Nicht einmal seine Söhne und Töchter. Der wiederauflebende Klatsch der Nachbarn vermischte sich mit dem Wehklagen des Windes.
    Niemand hatte den Besucher spät in der Nacht an Josefs Tür klopfen sehen. Niemand war bei der hastig geflüsterten Unterhaltung zwischen Josef und ihm zugegen gewesen oder hatte gesehen, wie Josef vor Schreck erbleichte. Bei der Nachricht des Besuchers war es gewiß um eine Frage von Leben und Tod gegangen, denn Maria wurde wenige Augenblicke später geweckt, Jesus in eine Wolldecke gehüllt und das Allernotwendigste sowie ein wenig Proviant in ein Bündel gepackt. Die Magd bekam ein paar Geldstücke zugesteckt und die Anweisung, sich

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