Ein Mensch namens Jesus
unbekannte Energieströme aus dem Boden Israels in seine Adern. Er glich jenen uralten Olivenbäumen, die man im Frühjahr noch glaubt, endgültig fällen zu müssen, und denen es dann doch immer wieder gelingt, Früchte hervorzubringen. Sobald ihn seine Beine tragen konnten, machte er sich auf, die Umgebung zu erkunden.
Der Sommer hatte seinen Einzug gehalten. Die Felder schillerten im Sonnenschein, und bei der leisesten Luftbewegung verströmten die Hügel den Duft von Myrthe und Koriander. Maria machte sich Sorgen über Josefs langes Ausbleiben und ging ihn suchen. Noch bevor sie ihn auf einer Anhöhe erblickte, hörte sie bereits seine Stimme. Er kniete und sprach ganz allein für sich, völlig entrückt, so daß sie befürchtete, er habe einen Sonnenstich.
»Herr, sei gepriesen bis zu dem Tag, da sich die Sonne verzehrt hat!« rief er lauter als die Zikaden. »Sei ewig bedankt, allmächtiger Herr dieser Erde, für das Geschenk des Lebens, das Du uns gemacht hast! Herr, ich bin nicht mehr als eine Schwalbe, eine Palme oder ein Kaninchen, ich bin nur ein alter Mann, der in Dir seine ewige Ruhe finden will. Doch mein Herz ist voller Liebe zu Dir und voller Feude, Dein Eigentum zu sein. Ich habe ebensoviel Vertrauen in Deine Barmherzigkeit, wie ich Deinen Zorn fürchte. Schenke mir einen guten Tod!« Erschrocken, ratlos und erschüttert, wagte sie nicht, sich ihrem Mann zu nähern. Die Gefühle, die sie so viele Jahre unterdrückt hatte, wollten sie schier ersticken. Sie weinte und fiel auf die Knie. Erst nach einer Weile bemerkte er sie, oder vielleicht ahnte er auch nur ihre
* Nazarener hießen nicht nur die Einwohner von Nazaret, sondern auch die Mitglieder einer überaus sittenstrengen Pharisäersekte Nähe, als er das Schluchzen vernahm. Von weitern sah er sie an mit seinem gestrengen Blick. Und erst, als er sich erhob und den Hügel herunterkam, lief sie ihm entgegen.
»Der Herr möge dir noch viele Jahre schenken!« sagte sie. »Ich brauche dich.«
»Wir müssen ein Haus für uns finden«, meinte er nach einer Weile. Er ging dem Rabbiner einen Besuch abstatten und erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß Nazaret nicht mehr als etwa hundert Seelen zählte. Einen Zimmermann gab es hier bereits. Und was den Rabbiner anging, so war von dem kaum ein brauchbarer Rat zu erwarten; er konnte kaum lesen und schreiben und sah überdies die Hand nicht vor den Augen. Gewiß war er auch nicht der Richtige, um Jesus zu unterrichten.
Ihn unterrichten... überlegte Josef. Aber mit welchem Ziel? Nach und nach wagte er endlich, sich seine Verstimmung einzugestehen. Er mußte nun über die Zukunft des Kindes entscheiden. »Ich habe für ihn gesühnt«, sprach er bei sich, während er sich auf den Rückweg zum Hause des Samäus machte, »und immerhin gehört er zu meiner Familie. Aber ich kann ihn unmöglich einen Rabbiner werden lassen.«
Maria war mit den Frauen am Fluß beim Wäschewaschen. Nicht weit davon spielte Jesus mit ein paar Kindern. Er entdeckte den Vater schon von weitern und verließ seine Spielgefährten.
»Du bist nicht mehr krank, Vater?« fragte er ihn.
»Der Herr hat mir einen Aufschub gewährt.«
»Während du krank warst, hat die Mutter gesagt, ich muß lernen, Gebete für dich zu sprechen.«
»Ich werde dir das Beten beibringen.«
»Und alle sagen, daß ich vielleicht einmal ein Rabbiner werden und deshalb lesen lernen muß.«
»Alle...«, knurrte Josef. »Und wer soll das sein, alle? Du hörst doch wohl hoffentlich nicht auf die Meinung von jedem x-beliebigen?«
»Aber bin ich denn nicht alt genug, um lesen und schreiben zu lernen?« Jesus ließ nicht locker.
»Natürlich. Wir werden schon dafür sorgen.«
»Und ich werde kein Priester?«
»Habe ich jemals gesagt, daß du einer werden sollst?«
»Aber bist du denn keiner?« fragte Jesus leise, fast herausfordernd. »Nicht alle Söhne von Rabbinern sind ihrerseits wiederum Rabbiner. Du wirst Zimmermann wie ich. Du stellst viel zu viele Fragen und hörst viel zuviel auf das, was die Leute sagen.«
Als Samäus und die Seinen am Abend um den Tisch versammelt waren, während sich die Frauen im Hintergrund hielten, hob Josef seine Hand und ergriff das Wort.
»Samäus, du hast dich mir gegenüber wie ein Sohn verhalten, du hast mir und meiner Familie ein Dach, Brot und Salz gewährt. In deinem Haus hat mir der Allmächtige das zurückgegeben, was mir an Kräften noch bleibt, und ich erbitte Seinen Segen über dein Heim. Gerne hätte ich den Rest
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