Ein Mensch namens Jesus
Schattierungen, welche von den Fackeln herrührten, die Sklaven unter den Arkaden in Eisenringe steckten, wie es neuerdings in den römischen Städten Sitte war. Jesus fröstelte. Da spürte er plötzlich, daß der Blick einer Frau, die auf der Schwelle eines stattlichen Hauses stand, auf ihm ruhte.
»Du siehst erschöpft aus«, sprach sie ihn an. »Deine Füße sind staubbedeckt und deine Wangen eingefallen. Glaubst du nicht, daß dir warmes Waschwasser und eine Suppe guttäten?«
»Frau, du täuschst dich in mir. Deine Kleider verraten mir deinen Beruf. Vergeude nicht deine Zeit mit mir! Ich habe nicht das nötige Geld und außerdem auch kein Verlangen nach den Träumen, die du verkaufst.«
»Ich will kein Geschäft mit dir machen, ich biete dir ganz einfach meine Gastfreundschaft an; du kannst unter meinem Dach wohnen und essen.«
Sie stand bestimmt nicht mehr in der Blüte ihrer Jahre, und der erloschene Glanz ihrer Augen im geschminkten Gesicht drückte ganz deutlich aus, daß sie keinen Kunden mehr suchte. Doch die Vorsicht siegte über seine Müdigkeit.
»Ich schätze dein Angebot sehr, aber du mußt wissen, daß ich in zweifacher Hinsicht ein Fremder bin. Ich bin kein Samariter, und für mich heißt der Heilige Berg Nebo und nicht Garizim.«
»Am Jüngsten Tag werden wir alle am Fuß eines einzigen Berges stehen«, erwiderte sie, ohne ihn dabei anzusehen.
Er nickte und folgte ihr ins Haus. Drinnen war es warm, und ihm fiel sogleich die kostbare Ausstattung auf. Teppiche und Pelze waren über die Lager gebreitet, überall brannten Duftlämpchen, Wandleuchter und Fackeln beschienen die geschmückten Wände. Kitharaklänge ertönten und verstummten auf einen Wink der Frau. Zwei Nubier strafften sich in Erwartung der Befehle ihrer Herrin.
»Ich kann dir alle möglichen Speisen anbieten«, sagte sie, »aber ich habe den Eindruck, daß du sehr genügsam lebst und dir ein einfaches Mahl lieber ist. Willst du eine Fischsuppe und anschließend ungesalzenen Quark mit Sesambrot?«
Er nickte. Diener kamen, um ihm aufzutragen. Während er aß, hielt sie sich in ehrerbietiger Entfernung. Sie beobachtete ihn, wie er vor Beginn und nach Beendigung des Mahles sein Gebet sprach.
Als er fertig war und sich ihr zuwandte, meinte sie mit etwas rauher Stimme: »Du stellst dir gewiß Fragen. Ich wurde von meinem Mann verstoßen, weil ich unfruchtbar bin. Erzähl mir von dir!«
»Ich heiße Jesus und bin der Sohn eines Zimmermanns aus Kafarnaum. Ich hoffe, einem Magier namens Dositheus zu begegnen und vielleicht auch noch einem anderen namens Simon.«
»Magier... Wozu kann man nur Magiern begegnen wollen?« sagte sie wie zu sich selbst.
»Vielleicht, weil sie mehr wissen...«, deutete er an.
»Und wenn sie mehr wissen?«
»Wissen ist Macht.«
»Na und?« fragte sie mit bitterer Ironie.
Er war sprachlos. Nie hatte er daran gedacht, daß man den Nutzen der Macht in Frage stellen könne.
»Wozu denn diese Macht?« fragte sie weiter.
Wie verwünschte er doch die Unverschämtheit dieser Frauen, die sich von jeglicher gesellschaftlicher Moral losgelöst hatten! Aber sie war freundlich zu ihm; schließlich hatte sie ihm ihre Gastfreundschaft erwiesen, selbst wenn er nun in gewisser Hinsicht dafür zahlen mußte.
»Die Macht könnte zum Beispiel jenem Volk von Nutzen sein, das ich das meine nenne.«
»Dann müßtest du ein Römer werden.«
Er begriff nicht.
»Du müßtest, wenn du nach Macht strebst, ein Römer werden, denn ein einziger römischer Offizier verfügt über mehr Macht als alle unsere Tetrarchen. Und außerdem bist du reichlich naiv, wenn du glaubst, eine Macht wie die eines Magiers gegen die Römer einsetzen zu können. Dieses Volk hier ist besiegt.«
»Dann sollte man also alle Hoffnungen begraben?« warf er sarkastisch ein.
»Man darf die Macht der Besiegten nicht unterschätzen. Hier siehst du eine besiegte Frau«, sagte sie und breitete dabei die Arme aus, »und dennoch suchen die ehrbaren Bürger dieser Stadt bei mir Rat.«
Sie erhob sich und schritt in dem üppig ausgestatteten und doch so leer wirkenden Raum auf und ab. Er beobachtete sie, wie sie dahinschritt, müde und schön, ihr Kleid nachzog und die Nacht mit ihrem Duft erfüllte. Er war verstört. Er wollte diese Portion bitteren Wissens, über das sie verfügte, auch besitzen.
»Das ist also dein ganzer Lebenssinn«, fuhr sie fort, »das Streben nach Macht. Ich ahnte es, als ich dich auf der Straße herumirren sah. Du hast noch nie eine
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