Ein Mensch namens Jesus
Ambivius. Wenn man schon einen solchen Namen hatte! Aber der hielt sich nur sehr kurz in Jerusalem auf und hatte es eilig, wieder seinen Palast in Cäsarea aufzusuchen; die Klatschmäuler waren nicht auf ihre Kosten gekommen.
Die alten Männer und natürlich auch die Frauen in Palästina hatten ein neues Thema gefunden, über das sie nach Herzenslust jammern konnten: Man stimmte Wehklagen über die schlechten Zeiten an. Im Land wimmelte es geradezu von Magiern, von deren Wundertaten Reisende die Kunde verbreiteten. Auch die Zahl der Fremden in Palästina nahm ständig zu: Abessinier, Nubier, Mesopotamier und andere, die man nicht zu benennen wußte und die aus dem Gebiet jenseits des Pontus stammten — man erkannte sie an ihren blonden Haaren, den schmalen blauen Augen und der milchigen Haut. Und auch aus dem Osten gab es viele, manche von fast schwarzer, andere von eher wächserner Hautfarbe. All diese Menschen ließen sich für ihre heidnischen Kulte Tempel erbauen, natürlich nicht in Jerusalem, aber doch in den Städten der Dekapolis. Noch nie hatte man in Jerusalem soviel Gold, Silber und Edelsteine gesehen. Sogar die jüdischen Händler, die sich doch am Handel mit den Ausländern, denen sie unreine Tiere verkaufen durften, bereicherten, beklagten diese Verschwendung. Es war äußerst gefährlich geworden, sich nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Haus zu wagen, denn zahllose Strolche und Diebe machten die Straßen unsicher. Schreckliche Geschichten erzählte man sich. Was waren das für Zeiten!
Müde und trüben Gedanken nachhängend, lenkte Jesus seine Schritte Richtung Qumran, unschlüssig noch, welchen Weg er einschlagen sollte, denn es standen zwei zur Auswahl: einer, der am Jordan entlang nach Jericho führte, wo er in einiger Entfernung vom Toten Meer auslief (mit einem Fußmarsch von ein bis zwei Tagen mußte man hier wohl rechnen), und ein anderer, der von Samaria nach Betanien führte und kurz vor Qumran endete. Für welchen Weg man sich auch entschied, in beiden Fällen mußte ein Teil der unwirtlichen und gefährlichen Wüste Judäas durchquert werden. Am meisten Sorgen bereitete Jesus die Gefahr, sich zu verlaufen, denn in der Wüste würde kaum jemand ihm den Weg zeigen können. Er stand ohnehin noch ganz unter dem Eindruck der unangenehmen Erlebnisse anläßlich seines kurzen Besuches bei Dositheus. Er grübelte und grübelte und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Da war zunächst einmal diese Idee von einem immateriellen Gott... Natürlich, Gott war nicht stofflich! Aber übte er denn deshalb keinen Einfluß auf die reale Welt aus? Unmöglich! Aber wenn er über die reale Welt herrschte, dann hieß das auch, daß er nicht stärker als der Teufel war. Auch dieser Gedanke war unerträglich. Unmöglich, den Allmächtigen und seinen Gegenspieler auf die gleiche Stufe zu stellen.
Der von Dositheus angeführte Begriff eines großen allumfassenden Geistes war ihm besonders zuwider, zumal er ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte. Ein von Liebe beseelter Geist, der am Ende der Zeiten dem Abtrünnigen verzieh... Das hieße ja, daß die Menschen bis ans Ende der Tage diesen beiden im Streit liegenden Mächten als Spielball dienten. Aber im Grunde stand auch nichts dem Gedanken entgegen, daß der Herr nicht ebenso dem Teufel, der wie ein pflichtvergessener Erdenmensch der Versuchung erlegen war, vergeben würde. Aber welcher Versuchung? So fragte er sich grimmig, als er nahe bei Efraim in der Scheune eines reichen Bauern lag, der ihm Gastfreundschaft gewährt hatte. Welcher Versuchung? Wie war es möglich, daß die Versuchung schon vor dem Teufel existiert hatte? Was für ein lächerlicher Gedanke! Dann mußte man ja annehmen, der Teufel sei einem ihm schon seit ewigen Zeiten vorausgegangenen Übel erlegen, das folglich nur vom Allmächtigen selbst herrühren konnte. Hirngespinste, leichtsinniges Gefasel eines Griechen! Jesus stand auf und öffnete das Scheunentor, um die kalte Nachtluft einzuatmen. Es gab also keinen Teufel. Beinahe hätte er einen Schrei ausgestoßen, laut sein Aufbegehren und seine Qual in die Nacht hinausgeschrien. Draußen sang jemand eine zärtliche, traurige Melodie. Gewiß ein enttäuschter Liebhaber. Es gibt keinen Teufel, murmelte er, oder aber der Teufel ist genauso alt wie der Allmächtige. Sie sind Brüder. Sie teilen sich die Welt, und damit hat sich’s. Es sei denn, daß Gott gleichzeitig gut und böse ist wie ein Mensch. Jedenfalls gibt es keine Vergebung.
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