Ein Mensch namens Jesus
Gott hat dem Teufel nicht mehr zu vergeben als der Teufel Gott oder der Mond der Sonne.
»Ich sterbe«, dachte er. »Ich bin tot.«
Und tatsächlich erstarb alles Vergangene in ihm. Er trug Josef ein zweites Mal zu Grabe, dann auch seine Kindheit und Jugend als Jude. Er sehnte sich nach ein paar Armen, die ihn fest an sich drückten, und nach einem Körper, den er umarmen konnte. Schließlich legte er sich wieder hin und schlief erschöpft und niedergeschlagen ein.
Am nächsten Tag half er den Bauern bei der Ernte. Seine Ausdauer und Kraft setzte sie in Erstaunen. »Bleib doch bei uns!« schlug einer ihm vor. »Unsere Mädchen sind schön, und unsere Orangen duften.« Er antwortete lediglich mit einem Lächeln, und alle dachten, er sei geistig vielleicht etwas zurückgeblieben.
Als er mit den Bauern beim Essen saß, traf ihn ein Gedanke wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Wenn Gott dem Teufel nichts mehr zu vergeben hatte, dann gab es kein Jüngstes Gericht und auch kein Ende aller Zeiten! Er hielt im Essen inne. Wohin führten all diese Fragen? Er starrte auf seine Schüssel und aß dann die Weizenschrotsuppe widerwillig auf.
»Mein Sohn, man kann nicht sein ganzes Leben lang als Landstreicher umherziehen«, sagte ein alter Mann, der ihn beobachtet hatte, zu ihm. »Du bist jung und stark, du mußt dich irgendwo niederlassen. Dir fehlt die Wärme eines heimischen Herdes, und das zehrt an dir.«
Wärme! Eine Hand an seiner Wange, ein nacktes Bein, das sich gegen seines drückte, so aneinandergeschmiegt in den Schlaf hinüberzugleiten — wie oft hatte er davon geträumt! Aber er hatte sich ja für einen anderen Weg entschieden. Er betrachtete seine von den scharfen Getreidehalmen aufgerissenen Handflächen; sie würden schneller vernarben als sein Herz.
In der dritten Nacht schlief er sehr wenig. Zu wem sollte er beten? Wie konnte er sicher sein, daß sein Gebet auch wirklich Gott erreichte und nicht den Teufel? Unweigerlich mußte er an eine weitere Äußerung von Dositheus denken, an die nämlich, daß das Sittengesetz ein Gesetz der Menschen sei. Dem Großen Geist war es vollkommen gleichgültig, er ließ das Menschengeschlecht nach Herzenslust seine eigenen Gebote und Verbote erstellen. Moses hatte also nur Traumgesichte gehabt. Oder aber er war ein Komödiant gewesen, eines jener schamlosen Individuen, die in den römischen Theatern der Dekapolis auftraten. Wenn Josef wüßte, welche Gedanken ihn beschäftigten! Moses war auf den Berg gestiegen, um seine Gebote in Steintafeln einzuritzen, und dann hatte er behauptet — und es vielleicht auch ganz aufrichtig gemeint — , Gott habe sie ihm eingegeben. Diese verrückte Hypothese war nicht ganz von der Hand zu weisen angesichts der Tatsache, daß es ebenso viele Sittengesetze wie Völker gab. Das der Römer hatte nicht sehr viel mit dem der Ägypter gemein, welches sich wiederum von dem der Juden unterschied. Das der Juden aber...
Die Juden! Nur sie allein hatten keinen Gott, der das Böse verkörperte, wie zum Beispiel der ägyptische Gott Seth oder der römische Mars, gar nicht erst zu reden von all den anderen unzüchtigen oder verrückten Göttern, die es da gab. Römer wie Ägypter hatten moralische irdische Gesetze und unmoralische Götter. Bei den Juden dagegen waren Gott und Gesetze im Einklang. Alles übrige war unwichtig.
»Wenn Dositheus recht hat und es also keinen Gott des Guten gibt, wenn Gott gleichzeitig das Gute und das Böse ist, dann muß Er Seinen guten Teil in sich dazu bringen, sich zu offenbaren«, murmelte er. Er trat ins Freie. Laut tönte das Zirpen der Grillen, Veilchenduft erfüllte die Nacht. Das traurige Lied des Verliebten vom Vortag war längst verklungen, statt dessen heulte in der Ferne ein Schakal. Die Welt, ging es ihm durch den Kopf, war viel feierlicher als der Tempel in Jerusalem. In seinem Innersten riß und zerrte quälende Spannung wie im Bauch einer Frau kurz vor der Niederkunft. Irgend etwas schien sich anzukündigen, mußte geboren werden.
Wenn es Gott noch nicht gibt, muß er eben erschaffen werden.
Er ging ein paar Schritte. Ein Fuchs ergriff vor ihm die Flucht.
Man muß das Gute vom Bösen trennen, das Veilchen von der Pustel, den Mörder vom neugeborenen Kind, den Treulosen vom Unschuldigen.
Leidenschaft packte ihn plötzlich mit aller Gewalt. Er vergaß alles, selbst seine eigenen Gedanken, und fiel in die Knie, dann auf den Rücken. So blieb er reglos liegen. Seine Wangen fielen ein. Sein Gesicht wurde
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