Ein Mensch namens Jesus
aschfahl. Erst als der Morgen graute, kam er wieder zu sich. Völlig erschöpft erhob er sich. Er hatte Visionen gehabt, wirre Traumbilder, die er jedoch schon vergessen hatte, während er Wasser aus dem Brunnen zog, um sich zu waschen. Er mußte weiter, weiter nach Qumran.
So machte er sich wieder auf den Weg, ging langsam, immer dem Flußbett der Faria entlang. Was nur war in dieser Nacht mit ihm geschehen? Meine Seele hat mich verlassen, dachte er. In der Nacht war er umhergeirrt, daran erinnerte er sich, aber das war doch unmöglich, da er ja vor dem Scheunentor erwacht war. Und dennoch... erschrocken blieb er stehen: Vor seinen Augen tauchte jenes Bild wieder auf, das Bild von Häusern, die er von oben gesehen hatte. Von oben! Wie hatte er Häuser von oben herab sehen können? Er setzte sich hin, um nachzudenken, ohne dem Geheimnis jedoch auf den Grund zu kommen. Warum aber hatte er auf Anhieb gedacht, seine Seele habe ihn verlassen? Und wenn wirklich, wo war sie dann?
Als der Abend nahte, fühlte er sich matt; er verspürte Hunger und Durst. Das Wasser des Jordan tauchte vor ihm auf, in rötliches Licht getaucht. Jesus verließ den Pfad und ging zum Fluß. Dort zog er sich aus, warf seinen Stock auf das Kleiderbündel und ließ sich in die kalten Fluten gleiten. Das Wasser brachte sein Blut in Wallung, und auch sein hungriger Magen meldete sich zu Wort. Er kletterte wieder ans Ufer. Dort jedoch ließ ihn ein in der Nähe seiner Kleider hockender Unbekannter seinen Hunger vergessen. Ein Dieb? In der Tat galt der Weg als nicht ungefährlich. Man hatte ihm schon viele Geschichten von Räubern erzählt, die Reisende ausplünderten, ja sogar umbrachten. Als er sich langsam näherte, bemerkte er sofort, daß jemand in seinen Kleidern gewühlt hatte. Der sonnenverbrannte, struppige Geselle warf zwei Geldmünzen spielerisch in die Höhe und beobachtete ihn. Jesus begriff, daß es sein Geld war, alles, was ihm noch von dem Ersparten, das er aus Kafarnaum mitgenommen hatte, geblieben war.
Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, streifte er sich hastig seine Kleider über. Er schlüpfte in die Sandalen, ergriff seinen Stock und sprach dann den Fremden an: »Hast du da mein Geld in der Hand?« Spöttisch blitzte es in den Augen des Mannes auf. »Ist das alles, was du hast?«
Jesus nickte.
»So ein Pech!« meinte der Unbekannte. »Dann bist du ja noch ärmer als ich.« Und er reichte Jesus die Münzen zurück.
Jesus, dem nun klar wurde, daß er es mit einem Dieb zu tun hatte, nahm das Geld verdutzt entgegen, ohne jedoch seinen Stock aus der Hand zu legen.
»Ich habe dich aus dem Wasser steigen sehen«, sagte der Mann. »Du bist kräftig gebaut, aber du hast nicht einmal ein Messer bei dir, stimmt’s?«
Jesus nickte.
»Nichts als einen Stock und zwei Geldmünzen — man kann nicht gerade behaupten, daß du schwer an deinem Reisegepäck schleppst. Hast du wenigstens irgendwo etwas zu Essen versteckt?«
»Nein, ich habe nichts versteckt. Ich bin selbst hungrig. Wer bist du?«
»Joasch. Das war der Name eines Königs, nicht wahr? Aber ich bin ein Dieb und nicht einmal der König der Diebe, sonst hätte ich diesen Beruf schon längst an den Nagel gehängt. Gewöhnlich bin ich nie allein unterwegs, aber gestern hat man meinen Kumpan festgenommen. Magst du mit mir zusammen weiterziehen? Ich denke, das wäre für uns beide sicherer.«
»Ich soll einen Dieb beschützen?« fragte Jesus lächelnd.
»Was ist denn schlimmer?« fragte Joasch. »Gefahr zu laufen, von anderen Dieben umgebracht zu werden, oder sich in Begleitung eines der Ihren in Sicherheit zu wiegen? Außerdem kann ich dir etwas zu Essen anbieten. Ich habe zwei Wachteln, dazu Feigen, Nüsse, Datteln und sogar einen guten Wein in meinem Beutel.«
»Wenn ich einwillige, mußt du mir allerdings versprechen, nichts Unmoralisches zu tun, solange wir zusammen sind.«
»Mein Wort darauf.«
»Einverstanden.«
»Du bist kein Jude. Wie heißt du?«
»Doch, ich bin Jude und heiße Jesus.«
»Ein Jude ließe sich nie auf das Wort eines Diebes ein. Übrigens, wo geht die Reise hin?«
»Die Juden lassen sich zwar auf das Wort eines Diebes ein, aber sie erkennen es nicht an. Zunächst will ich nach Jericho.«
»Du sprichst von den Priestern, nicht wahr? Und was willst du in Jericho?«
»Du hast recht verstanden, ich meinte die Priester. In Jericho habe ich nichts Bestimmtes vor. Ich hoffe lediglich, dort jemanden zu finden, der mir sagen kann, wie man nach Qumran
Weitere Kostenlose Bücher