Ein mörderischer Sommer
selbst jetzt schätzte sein Blick sie ab, seine Finger bohrten sich in ihr Fleisch, wiesen auf die nur zu augenfälligen Makel hin. Starr stand Joanne da, wagte nicht zu atmen, damit das Geräusch ihres Atems sie nicht verriet, bis das Telefon endlich zu klingeln aufhörte. Dann begann sie wieder, durch den begehbaren Schrank zu wandern, und mit zitternden Händen griff sie nach einem türkisfarbenen Strandkleid, das wenigstens einen Anflug von Jugendlichkeit hatte, lief dann zur Kommode im Schlafzimmer, wobei sie sich am Fenster sorgsam duckte, obwohl gerade niemand im Garten arbeitete. Sie zog die oberste Schublade heraus, griff nach einem einfachen weißen Slip und einem passenden BH. Warum hatte sie nichts, das ein bißchen mehr sexy war? Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Haken an dem weißen Baumwollbüstenhalter. Warum besaß sie keins von diesen knappen Spitzendingern, die Eve sich immer kaufte? Sie beschloß, sich bald mal eines anzuschaffen. Wenn genug Zeit blieb, konnte sie ja vielleicht auf dem Weg zu Robins Schule anhalten und es gleich besorgen. Sie sah auf ihr Handgelenk, merkte, daß sie die Armbanduhr nicht trug, und warf einen Blick hinüber zum Wecker, der am Bett, gleich neben dem Telefon, stand. Schon zehn vor zehn – es würde knapp werden.
Was sollte das Ganze eigentlich? Sie lachte – ein Stakkato-Lachen, das im Hals steckenblieb. Sie zog das türkisfarbene Kleid an. Ihre Unterwäsche interessierte Paul nicht. Er würde sie nicht sehen. In vierzig Minuten würden sie sich mit Robins Lehrer treffen, um über ihre älteste Tochter zu sprechen, und danach würden sie zu Mittag essen – auf ihren Vorschlag hin, noch ein bißchen weiter über ihre älteste Tochter zu sprechen. Kein romantisches Tête-à-tête in einem Hotel in der Nähe als Dessert.
Joanne ging ins Bad und betrachtete sich prüfend im großen Spiegel. Ein kurzer Blick genügte, um sie davon zu überzeugen, daß der ihr seit beinahe zwanzig Jahren angetraute Mann bestimmt nicht überwältigt genug sein würde, um schleunigst nachzusehen, welche Unterwäsche sie für die Gelegenheit gewählt hatte.
Angewidert zog sie an einigen Haarsträhnen herum. Das Problem waren nicht ihre Kleider, dachte sie, es war ihr Gesicht. Sie brauchte einen neuen Kopf. Sie knurrte ihr Spiegelbild an. Sie sah so teigig aus. Sie ging zum Schlafzimmerfenster, zog ein Paar goldene geschlossene Sandalen an – was war bloß mit ihren Zehennägeln los? – und starrte hinaus auf den Saustall, der einst ein sehr gepflegter Rasen und Garten gewesen war. Mein Sommerhäuschen ohne Verkehr, dachte sie wehmütig.
Zehn Tage war es her, daß ein Arbeiter hiergewesen war, vor sieben Tagen hatte man ihr kurz mitgeteilt, daß Rogers Pools in Konkurs gegangen sei, und vor fünf Tagen hatte Paul ihr gesagt, er werde versuchen, alles in Ordnung zu bringen.
Make-up, dachte sie plötzlich, ein bißchen Make-up. Sie lief ins Bad, riß die Tür des Medizinschränkchens auf und holte die teuren Tuben heraus, die Eve ihr einmal aufgeschwatzt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das Zeug das letztenmal verwendet hatte. Wer hübsch sein will, muß auch was dafür tun, hatte ihre Mutter stets gepredigt, und Paul hatte ihr immer wieder gesagt, Künstlichkeit jeder Art sei ihm verhaßt. Trotzdem, ein bißchen Make-up konnte nicht schaden. Nicht so viel, daß man es sah, gerade so viel, daß es einen Unterschied machte. Sie verteilte einen Hauch von Schminke auf den Wangen, fand, daß es noch nicht reichte, nahm ein wenig mehr. Jetzt war es zuviel. Sie wusch es rasch ab und begann von vorne. Nach vier solchen Versuchen war sie immer noch nicht zufrieden. Sie mußte Eve einmal fragen, wie man das machte. Sie gab es auf, ihre Wangen zu schminken, griff zum Mascara und begann die kleine Bürste langsam und vorsichtig an ihren Wimpern entlang nach oben gleiten zu lassen.
Das Telefon klingelte. Das plötzliche Geräusch erschreckte sie, das Bürstchen fuhr ihr scharf ins Auge. Ihre Lider zuckten heftig; es hatte sehr weh getan. Sie preßte die Hand auf das rechte Auge, damit der stechende Schmerz aufhörte. Als sie sich einige Sekunden später im Spiegel betrachtete, sah sie, daß die Wimperntusche über ihre ganze rechte Gesichtshälfte verschmiert war. »Super«, sagte sie laut. Ihre Stimme zitterte, ihre Augen füllten sich mit Tränen des Selbstmitleids. »Ganz toll. Je näher sie kommt …«, murmelte sie, einen alten Clairol -Slogan zitierend, der sich auf eine
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