Ein mörderischer Sommer
sieht, wie Robin langsam nachtrottet, in ihren Augen dieselbe Unerbittlichkeit wie vor einem Monat, ihre Körperhaltung drückt dieselbe Unnahbarkeit aus wie damals.
»Kaum zu glauben, daß der Sommer schon zur Hälfte vorüber ist«, sagt Paul.
Joanne nickt. Die Zeit vergeht schnell, wenn man Spaß hat, denkt sie und wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es ist fast acht. Sie sind jetzt eine Stunde gefahren, trotz des regen Verkehrs sogar ziemlich zügig. Falls nichts Unvorhergesehenes passiert, werden sie in etwa zwei Stunden in Massachusetts sein und um zehn Uhr in Camp Danbee ankommen, wenn sie dort die Tore für die Besucher öffnen. Ob Robin sie am Eingang begrüßen wird?
Sie hat in den vergangenen Wochen nur einen einzigen Brief von ihrer ältesten Tochter erhalten, von Lulu dagegen fünf. Der Brief war kurz, nur bedingt informativ und ausgesprochen formell gehalten: »Liebe Mom, wie geht es Dir? Mir geht es gut. Das Wetter ist gut. Ich nehme an allen Sportaktivitäten teil. Im Schwimmen bin ich schon viel besser geworden. Die Mädchen in meinem Blockhaus sind ziemlich nett. Die Betreuer sind okay; das Essen ist nicht okay. Dein neuer Job scheint interessant zu sein.« Unterschrieben einfach mit »Robin«.
Wenigstens etwas, denkt Joanne, während sie die Landschaft entlang des Highways betrachtet. Wie grün alles ist, wie wunderschön in der frühen Morgensonne, obwohl der Wettermensch im Autoradio für den späten Nachmittag Regen ankündigt.
»Hast du gestern deinen Großvater besucht?« fragt Paul.
Joanne nickt. »Er hat die ganze Zeit geschlafen.«
»Und Eve? Wie geht's der?«
Joanne spürt, wie sie sich verkrampft; ihre Finger ballen sich zu Fäusten, die Nägel graben sich ins Fleisch. »Ich habe sie die ganze Woche über nicht gesehen«, erzählt sie. Sie bemerkt seinen überraschten Gesichtsausdruck.
»Wirklich? Wieso nicht? Sind Brian und sie endlich mal in Urlaub gefahren?«
»Nein«, sagt Joanne. Sie wurde ihm gern erklären, was vorgefallen ist, aber sie weiß nicht, welchen Sinn das hätte. »Wir hatten diese Woche beide sehr viel zu tun.«
»Dein Job hält dich wohl ziemlich auf Trab, was?«
»Nicht eine Sekunde Langeweile.« Wie wunderbar Paul aussieht! Sein Gesicht ist tief gebräunt, seine Beine in den weißen, über den Knien abgeschnittenen Jeans sind schlank und muskulös. In Shorts hat er schon immer gut ausgesehen. »Machst du noch immer jeden Tag Bodybuilding?« fragt sie.
Ein kurzes Lächeln umspielt seine Lippen. »Nicht jeden Tag«, gesteht er verlegen. »Ich habe es versucht. Eine Woche lang machte es Spaß, aber dann … Ich weiß nicht … Ich kann mich da einfach nicht so reinsteigern wie diese jungen Kerle. Du, das tut wirklich weh! Wenn ich morgens aufwache, sind meine Beine ganz steif, in den Armen habe ich einen Muskelkater, im Rücken höllische Schmerzen, und dann denke ich mir eben, was soll's? Ich habe das Trainingsprogramm nicht völlig aufgegeben«, fügt er hinzu, »aber der Enthusiasmus nimmt doch merklich ab. Es ist einfach zu anstrengend, Muskeln heranzubilden. Schließlich bin ich ja bis jetzt immer ohne ausgekommen.« Er lächelt. »Außerdem werden sich meine Arme nie voll entwickeln … Diese Unfälle als Kind …« Er wirft ihr einen verschmitzten Blick zu, und sie beginnen beide zu lachen. »Du siehst toll aus«, sagt er ernsthaft. »Wie hast du das denn angestellt?«
»Ich habe mir ein paar Strähnchen ins Haar färben lassen.«
Er schüttelt den Kopf. »Das allein ist es nicht.«
»Ich habe ein paar Pfund abgenommen. Ich bin in letzter Zeit ziemlich viel gejoggt …«
Sie fühlt seinen Blick auf ihren Beinen. »Und die Tennisstunden?«
»Damit habe ich aufgehört.« Sie räuspert sich nervös.
»Ach?«
»Meine Zehen wurden zu sehr strapaziert.« Ihr Blick folgt seinem an ihren Beinen entlang zu den Füßen in den offenen Sandalen. »Ich glaube, die Nägel werden demnächst abfallen.«
Er zuckt zusammen. »Und dann?«
»Ron sagt, wahrscheinlich sind schon neue darunter.«
»Ron?«
»Ron Gold, der Arzt, für den ich arbeite. Habe ich dir doch erzählt. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«
Paul zuckt mit den Achseln und richtet den Blick wieder auf die Straße. »Kenne ich ihn?« fragt er, und Joanne hört in seiner Stimme das vertraute Bemühen, locker zu wirken. Vertraut deshalb, weil es ein Klang ist, den sie mit ihrer eigenen Stimme in Verbindung bringt.
»Ich glaube nicht«, sagt sie.
»Der Name kommt mir bekannt vor.
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