Ein mörderischer Sommer
Wie sieht er denn aus?«
Joanne muß ein Lächeln unterdrücken. Sie kann direkt fühlen, wie unwohl Paul sich fühlt. Ist er eifersüchtig? »Er ist nicht besonders groß«, beginnt sie. »Er hat rotblondes Haar. Eigentlich sieht er genauso aus wie vor fünfundzwanzig Jahren. Ein gutaussehender Mann«, fügt sie hinzu, ohne genau zu wissen, weshalb.
»Verheiratet?«
»Ja.«
»Hast du immer noch vor, die Arbeit Ende des Sommers aufzugeben?«
»Ja«, antwortet Joanne nach einer Pause.
»Klingt nicht sehr überzeugend.«
»Ron will nicht, daß ich aufhöre. Er sagt, ohne mich sei er aufgeschmissen.« Sie lacht. »Ich glaube, da hat er recht.«
»Du denkst also daran, weiterzumachen?«
Joanne nimmt sich eine Minute Zeit, um ernsthaft über diese Frage nachzudenken. »Nein, eigentlich nicht«, sagt sie schließlich. Sie verfallen in Schweigen. Den Rest der Fahrt über sprechen sie nur das Nötigste. Die leichte Musik aus dem Radio ist der geeignete Hintergrund für ihrer beider Tagträume.
Was denkt er jetzt? überlegt Joanne. Sie ist seltsam entspannt, die frühmorgendliche Nervosität ist gänzlich verschwunden. Oder hat sie sich nur von ihrem Körper in seinen verlagert? Ist es allen Ernstes möglich, daß Paul eifersüchtig ist? Wahrscheinlich ist er nicht eifersüchtig, korrigiert sie sich, sondern nur neugierig, vielleicht ein bißchen beunruhigt. Der Gedanke, daß es in ihrem Leben noch einen anderen Mann geben könnte, ist ihm offensichtlich nie gekommen. Bis zu diesem Augenblick war sicher, daß sie nichts tun würde, um den Status quo zu verändern, daß sie verfügbar bleiben würde, bis er über ihr Schicksal entschieden hätte, voller Zuversicht, sehr viel Zeit für seine Entscheidung zu haben. Jetzt ist er sich nicht mehr ganz so sicher. Denkst du über mich nach? fragt sie ihn in Gedanken. Sie schielt zu ihm hinüber.
Er sieht sie an und lächelt herzlich. Erstaunlicherweise wendet sie den Blick als erste ab, lehnt den Kopf gegen die Kopfstütze und schließt langsam die Augen. Irgend etwas ist los, das fühlt sie, aber sie weiß nicht, was es ist.
Als sie die Augen wieder öffnet, fahren sie nicht mehr auf dem Highway, sondern auf einer anderen Straße.
»Wir sind gleich da«, sagt er. Sie setzt sich aufrecht hin und hält Ausschau nach den Toren zum Camp. »Nur noch ein paar Kilometer«, erklärt er. »Hast du gut geschlafen?«
»Wunderbar«, antwortet sie, überrascht, daß sie einfach so weggesackt ist. In der vergangenen Nacht war sie sich völlig sicher, daß sie den nächsten Tag nie und nimmer überstehen werde, und jetzt hat sie fast die Hälfte dieses Tages verschlafen. So einfach müßte alles sein, sagt sie sich. Jetzt sieht sie die Tore von Camp Danbee. »Wie spät ist es?« fragt sie und registriert erst jetzt daß sie in einer langen Autoschlange stehen.
»Zehn Uhr vorbei. Wir sind gerade recht gekommen.«
»Siehst du sie schon irgendwo?« fragt sie und läßt den Blick über die Kindermenge schweifen, die sich an den Toren des Ferienlagers versammelt hat.
»Nein, noch nicht.«
Paul biegt in die beschilderte Parkfläche ein. Joanne sieht sich immer wieder nach ihren Töchtern um; ihre früheren Befürchtungen kehren heftiger denn je zurück. Wird Robin hier sein, um sie zu begrüßen? Wird man mit ihr reden können, oder wird sie sich ihnen entziehen? Wie wird der Tag werden? Wie wird die Rückfahrt werden? Werden sie je wieder eine richtige Familie sein?
Der Wagen hält, und Paul zieht den Zündschlüssel heraus. Betont langsam wendet er sich ihr zu und nimmt ihre Hände. »Alles wird gut werden«, sagt er sanft, als ob er ihre Gedanken erraten hätte. Und dann fügt er leise hinzu: »Ich liebe dich, Joanne.«
Joannes Herz macht einen Sprung. Die üppige Landschaft, die sie umgibt, verschwindet; der Lärm, den die dreihundert Mädchen machen, verklingt. Joanne sieht nur Paul, spürt nur den Druck seiner Finger auf ihren Händen, hört nur seine Stimme.
»Mom!« hört sie jemanden rufen. Sie dreht sich um. Lulu klopft wild an die Scheibe des Beifahrerfensters. Wie lange steht sie da schon?
»Liebling!« ruft Joanne, öffnet die Wagentür und nimmt ihre jüngere Tochter in die Arme. »Laß dich anschauen. Ich glaube, du bist hier zehn Zentimeter gewachsen!« Sie streicht ihr die Haare aus den Augen. »Und deine Augen sind auch größer geworden!« Sie lacht.
»Das sieht bloß so aus, weil der Rest von mir langsam verschwindet«, sagt Lulu. »Habt ihr was zum Essen
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