Ein Moment fürs Leben. Roman
kleiner unser Team wurde, desto mehr fühlte es sich wie eine dysfunktionale Familie an, und obwohl ich immer in der Beobachterposition blieb, begriff ich, dass wir uns zwar immer noch nicht sonderlich nah waren, unsere Gruppe jedoch spürbar zusammenrückte. Vielleicht hegten wir keine große Sympathie füreinander, aber wir schützten unser Team, und in gewisser Hinsicht hatte ich sie alle hinters Licht geführt. Heute Morgen hatte ich überlegt, mich krankzumelden oder zu Fischgesicht zu gehen und ihr zu beichten, dass ich kein Spanisch konnte. Damit hätte ich zwar die öffentliche Blamage vor dem Team vermieden, aber privat wäre es demütigend gewesen. Schließlich hatte ich mich gegen beides entschieden, weil ein Teil in mir glaubte, dass ich meinem Leben ein Schnippchen schlagen und vielleicht über Nacht eine komplette Fremdsprache lernen könnte. Nachdem ich also Don Lockwoods perfektes Ohr genügend bewundert hatte, hatte ich mich hinter meine Spanisch-Lehrbücher geklemmt. Um drei Uhr morgens war ich jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass es unmöglich war, eine komplette Sprache über Nacht zu lernen.
Inzwischen hatte Graham das Gurkenpicken aufgegeben und biss in sein Baguette, während er müde das
Mastermind
-Spiel beobachtete. In solchen Momenten fand ich ihn richtig attraktiv – dann nämlich, wenn er nicht vorgab, jemand anderes zu sein. Er sah zu mir herüber, und wir tauschten einen Blick liebevoller Genervtheit, aber dann zwinkerte er, und ich verabscheute ihn wieder.
»Okay, ich bin dran.« Louise schubste Zwinker-Quentin vom Stuhl und nahm selbst Platz.
Verwirrt stand Zwinker-Quentin auf und rückte seine Brille zurecht.
»Gut gemacht, Quentin«, sagte ich.
»Danke.« Er zog die Hose hoch, so dass sein Bauch über und unter der Gürtellinie zum Vorschein kam, und machte ein stolzes Gesicht.
»Was ist dein Spezialgebiet?«, erkundigte Mary-Maus sich bei Louise.
»Die Werke von Shakespeare«, antwortete Louise todernst. Graham, der gerade wieder in sein Baguette beißen wollte, erstarrte. Wir alle glotzten Louise an. »War nur ein Witz. ›Leben und Wirken von Kim Kardashian.‹«
Alle lachten.
»Du hast zwei Minuten, fangen wir an. Wessen Anwalt war Kim Kardashians Vater, Robert Kardashian, bei einem umstrittenen Fall in den Neunzigern?«
» OJ Simpson«, antwortete Louise so schnell, dass man sie kaum verstand.
Zwinker-Quentin setzte sich zum Zuschauen neben mich. »Was isst du da?«, fragte er.
»Drei-Bohnen-Salat, aber schau, da sind nur zwei Sorten drin.«
Zwinker-Quentin beugte sich näher, um das Bohnenangebot zu studieren. »Kidneybohnen, Kichererbsen … hast du die anderen vielleicht schon gegessen?«
»Nein, ganz sicher nicht, das hätte ich gemerkt.«
»An deiner Stelle würde ich den Salat zurückgeben.«
»Aber ich hab ihn ja schon halb auf, die denken garantiert, ich hätte die dritte Sorte gegessen.«
»Ein Versuch lohnt sich immer. Wie viel hat das Zeug denn gekostet?«
»Drei fünfzig.«
Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Also, ich würde es zurückbringen.«
Ich hörte auf zu essen, und wir wandten uns wieder
Mastermind
zu.
»In welchem Spin-Off ist Kim Kardashian in eine andere Stadt gezogen, um dort mit ihrer Schwester einen neuen Klamottenladen aufzumachen?«
»Kourtney and Kim Take New York«
, kreischte Louise. »Der Laden heißt
D-A-S-H
.«
»Du kriegst aber keine Zusatzpunkte für Zusatzinformation«, beschwerte sich Graham.
»Kscht«, brachte sie ihn zum Schweigen, ohne die Uhr aus den Augen zu lassen.
In diesem Moment hörte ich Michael O’Connors Stimme auf dem Korridor: Laut, selbstbewusst und informativ wies er auf die unbedeutenden Fakten des Stockwerks hin, auf dem ich Tag für Tag mein Leben fristete. Anscheinend hatte Edna ihn auch gehört, denn sie öffnete ihre Bürotür und nickte mir zu. Ich stand auf, strich mein Kleid glatt und hoffte, das knitterfreie, mit Kolibris bedruckte Material würde mir beim Spanischsprechen helfen. Michael O’Connor begrüßte Edna an der Tür, und nun lag es an mir, Augusto ins Büro zu holen.
Ich räusperte mich und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
»Señor Fernández, bienvenido.«
Wir schüttelten einander die Hand. Der Spanier sah extrem gut aus, was mich zusätzlich durcheinanderbrachte. Wir sahen uns lange schweigend an.
»Ähm. Ähm.« Mein Kopf war vollkommen leer. Alle Sätze, die ich mir heute Nacht noch schnell eingetrichtert hatte, verließen in einem Sabotageakt
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