Ein Moment fürs Leben. Roman
Leben selbst einen fiesen kleinen Mann genannt.«
Ihre Bambiaugen waren voller Mitgefühl. »Fühlst du dich denn erbärmlich, Lucy?«, fragte sie.
»Ich? Nein. Ich fühle mich nicht erbärmlich.« Das war keine Lüge. Ich
fühlte
mich nicht erbärmlich, nur ein bisschen unglücklich, seit mich mein Leben mit sich selbst und mit meinen Fehlern bekanntgemacht hatte. »
Er
ist erbärmlich.«
»Erklär mir, wie das funktioniert.«
»Er ist wie Pinky und ich wie Brain«, sagte ich. »Oder ich das Röntgenbild und er der gebrochene Fuß«, versuchte ich zu erklären, kam aber schnell ins Schwimmen. »Er ist die Nase und ich Pinocchio. Ja, das klingt richtig«, fügte ich lächelnd hinzu.
»Was redest du denn da?«
Ich seufzte. »Er begleitet mich. Überallhin.«
»Warum?«
»Um mich zu beobachten und mir zu helfen, dass alles besser wird.«
»Für wen? Für dich?«
»Und für ihn.«
»Was denn zum Beispiel? Was muss besser werden?«
Ich durchforschte mein Hirn nach einer Antwort, die nicht gelogen war. Leider waren in meinem Kopf nur sehr wenige Gedanken verfügbar. Aber Melanie las nie die Zeitung und hörte auch nie Nachrichten, also hatte sie bestimmt noch nichts von dem Vorfall in der Firma erfahren. »Beispielsweise hatten wir da vor ein paar Tagen diese Sache im Büro. Ein Mann, mit dem ich zusammenarbeite, ist entlassen worden und am nächsten Tag mit einer Pistole aufgekreuzt – keine Angst, es war bloß eine Wasserpistole, obwohl wir das nicht wussten. Jedenfalls hat er alle ziemlich aufgemischt, und dann ist alles Mögliche passiert, und jetzt ist mein Leben eine Weile hier.« Ich drückte es möglichst vage aus.
In diesem Moment hörte ich ein Sirenengeheul und dachte, es wäre der Feueralarm. Meine erste Reaktion war Dankbarkeit, dass wir jetzt sicher evakuiert wurden und ich das Thema fallenlassen konnte, aber dann begriff ich, dass es das Sirenengeheul eines amerikanischen Streifenwagens war, und als ich mich umsah, entdeckte ich die Kellnerin mit einem Tablett, auf dem neben unseren Drinks ein blinkendes Blaulicht stand.
»Oh, wie unauffällig«, sagte ich.
»Hi, Leute«, säuselte die Kellnerin. »Der Mann hat gesagt, er bleibt erst mal an der Bar.«
»Danke.« Melanie musterte sie von oben bis unten und lächelte sie verführerisch an. Als das Mädchen wieder gegangen war, wandte sie sich wieder mir zu. »Sie ist neu. Und sehr süß.«
Ich sah ihr nach. »Hübsche Beine.«
Wir waren noch Teenager gewesen, als Melanie mir erzählt hatte, dass sie lesbisch war. Mich verunsicherte ihr Geständnis, aber ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. Ich war nicht schwulenfeindlich oder so, aber wir waren uns immer sehr nahe gewesen und hatten alles Mögliche miteinander geteilt – die Umkleidekabine, die Dusche, beim Ausgehen auch mal die Toilette, lauter solche Dinge eben. Jetzt, wo ich wusste, dass sie Frauen mochte, war ich nicht sicher, was nun aus diesen Gewohnheiten werden würde. Als ich mich dann eines Abends allein in einer Toilettenkabine verbarrikadierte, informierte sie mich – und den Rest der Schlange – klipp und klar, dass sie sich nicht im Geringsten für mich interessierte und sich auch nie für mich interessieren würde. Daraufhin fühlte ich mich noch schlechter als zuvor, vor allem durch ihre Bekräftigung, dass ihr Desinteresse auch für die Zukunft galt. Sie zog mich also nicht mal in Betracht? Es war doch gut möglich, dass ich mich veränderte, und es störte mich, dass sie so engstirnig war.
Nun saßen wir in ihrem Club, nippten an unseren Drinks, und ich hoffte gegen besseres Wissen, wir könnten endlich das Thema wechseln. Aber nichts dergleichen.
»Was ist denn alles passiert?«, hakte sie genau dort ein, wo wir aufgehört hatten.
»Ach nichts, ich hatte nur ein bisschen Ärger.«
Ihre Augen wurden groß. »Was denn für Ärger?«
»Ich hab auf meinem Lebenslauf ein bisschen geschwindelt«, erklärte ich mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Melanie warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. »Was hast du geschrieben?« Sie amüsierte sich köstlich, aber ich wusste, dass das nicht lange anhalten würde, denn dieses Gespräch entwickelte sich in keine angenehme Richtung. Gerade setzte ich an, ihr eine saftige Lüge aufzutischen, als mein Leben zu unserem Tisch zurückkam. Vermutlich hatte er mein Vorhaben geahnt.
Melanie betrachtete ihn mit neuer Bewunderung. »Lucy hat mir erklärt, dass du ihr Leben bist.«
Mein Leben sah mich an, ganz
Weitere Kostenlose Bücher