Ein Mord den jeder begeht
ein«, antwortete Günther.
5
So ging die Molchzeit zu Ende. Und auch sonst änderte sich vieles, ja eigentlich bald alles im Leben Conrads.
Jetzt zunächst kamen die großen Schulferien, und ihr Beginn brachte das Ende des Umganges mit Günther Ligharts, und nicht nur eine Unterbrechung für zwei Monate. Denn Günthers Eltern übersiedelten nach Berlin, und Kokosch fand im Herbste beim neuerlichen Schulbeginn den Freund nicht mehr vor. Um Neujahr kam dann Nachricht von ihm. Eine Bilderkarte, die einen weißen Pierrot oder Harlekin zeigte, der ein wenig lächelte unter seiner hohen, spitzen Mütze. Kokosch bewahrte die Karte sorgfältig auf in der Lade bei seinen Schreibsachen. Er wollte antworten, das war ja selbstverständlich. Die Anschrift hatte Günther genau vermerkt: Uchatiusstraße 23. Conrad betrachtete die Ansichtskarte oft, das Bild schien ihm in irgendeiner Weise der Person Günthers verwandt oder dazu passend. Der Pierrot sah ihm ein wenig ähnlich. Beantwortet wurde die Karte niemals.
Jene auf die Molchzeit folgenden Sommerferien bildeten für Conrad späterhin noch dann und wann – wenn der blasse Scheinwerfer der Erinnerung einmal rasch und zwischendurch über diese Gründe spielte – einen Gegenstand der Verwunderung. Denn er hatte sich aus dieser Zeit – die da ganz zweifellos zwischen dem Ende und dem Wiederbeginn des Schulunterrichtes liegen mußte, die es also unbedingt gegeben hatte – schlechthin gar nichts gemerkt. Nur das war vorhanden, was sie mit anderen Schulferien eben verband: das Gemeinsame des Hintergrundes. Haus und Hof der Tante, in einer flachen Wiesensenkung mit sehr hohem Grase, das überall gleich hinter den Zäunen stand und wuchernd emporsprießte, wo gerade kein Weg oder Acker oder Gemüsebeet es fernhielt. Unweit davon die altmodischen, gittrig-geschnörkelten Holzveranden der Villen einer dörflichen Sommerfrische, ausgedörrt von der Sonne, nach Holz riechend, wenn man vorbeiging. Ein paar Zäune hin und her mit den um diese Jahreszeit längst abgeblühten Fliederbüschen, deren Blätter entweder fettig glänzten oder staubig von der Straße waren. Dahinter die Ausläufer des bergigen Waldes und der Bahndamm – jenseits dessen die vielgeteilte Ebene ansetzte, schachbrettweis mit Feldern überzogen, von Straßen und Industriekanälen geriemt, bis zu den Schornsteinen der Fabriken rückwärts und der fernen Stadt.
Jedoch nichts konnte später gerade aus diesem einen Sommer »nach der Molchzeit« erinnert werden, was sich während desselben etwa begeben haben mochte und sich ja gewiß auch begeben hatte: Wagenfahrten mit den Eltern, Spiele mit anderen Buben, Hirschkäfer-Fangen oder die Entdeckung eines Igels. Kokosch mußte das alles geradezu aus anderen Sommerferien entlehnen und so die flache hochgrasige Wiesensenkung gleichsam ausfüllen, die hintennach allein und unbelebt in seiner an dieser Stelle ganz ebenso flachen Erinnerung stand.
Dafür trat Kokosch in den Herbst und in die wieder beginnende Schulzeit hinein wie in eine große Veränderung, von der ihm schien, als sei diese während seiner Abwesenheit vollzogen worden in seinem Zimmer, das wie umgebaut war, wenn auch äußerlich unverändert. Alsbald umschloß ihn diese vollzogene Tatsache, der Sommer versank blaß, die Molchzeit schon ganz und gar, und mit ihr bald auch die Au. Mit dem beginnenden Kriege und dem jetzt alles überflutenden Exerzieren der Soldaten dort gewann sie zwar eine neuartige Anziehungskraft; jedoch nur für ein kurzes: denn als man zwei – oder dreimal zwischen die feuernden Schwarmlinien und das heftige Gebell der Gewehre geraten war, aus welchen das Mündungsfeuer spritzte, als man den manövrierenden Maschinengewehrabteilungen im Wege gestanden und die Flucht hatte ergreifen müssen bei lähmendem Geknatter, welches in nächster Nähe losging, als man endlich schon des öfteren zwar freundlich, aber recht entschieden von einem der Offiziere aus dem Gelände fortgeschickt worden war (freilich wußte so ein Leutnant, daß auch die blinde Übungsmunition gefährlich werden konnte für Jungen, die gleich alles aus nächster Nähe besichtigen müssen) – da hatte man bald genug von der ganzen Gegend. Auch waren die Soldaten keineswegs schön und wurden es immer weniger: angestrengte ältere Männer, die Uniform voll Staub und Lehm, da sie ständig auf dem Bauche lagen.
So brach dieser Flügel weg von Conrads »Reich«, die Au versank, und für immer.
Jenes Neue aber, das ihm seit
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