Ein Mord den jeder begeht
Nachts in seinem Bette. Das Fenster stand bleich, hoch und scharf viereckig, denn man hatte tags zuvor die Vorhänge abgenommen, um sie zu waschen. Einzelne Dächer des ansteigenden Stadtteiles jenseits vom Kanale schimmerten schwach. Conrad lag klar wach, als sei er völlig und fertig ausgeschlafen. Er schwebte so, auf dem Rücken liegend, wie im Mittelpunkte von jenem äußeren und nicht mehr benennbaren Ring des Lebens, der gleichsam als ein Hof noch um den inneren lag, jedoch keine aufzählbaren einzelnen Dinge mehr enthielt. Was diese anlangte, so waren sie in Ordnung, insoweit man da überhaupt einen festen Grund der Beruhigung erreichen konnte. Jedoch traf jetzt, und lebhaft, als stieße ihn jemand plötzlich in die Seite, von draußen ein Ruf ein: Ida.
Aus der Gegend des Rennplatzes her tönte ein langer, klagender Eisenbahnpfiff und erstarb.
Conrads Herz gab einen kleinen Ruck. Es mußte das geordnet werden, ja: er flüsterte es im Dunklen vor sich hin.
Der nächste Sonntag näherte sich. Hier bestand eine Schwierigkeit. Es war kein Geld mehr vorhanden, jedenfalls nicht genug. (Das Beisammensein in anderer als der gewohnten Weise zu gestalten, wozu dann kaum Geld nötig gewesen wäre, das betrat seltsamerweise gar nicht den Kreis von Conrads Vorstellungen.) Dieser Monat hatte schon vier Ausflüge gebracht. Sich nach dem Monatsersten, wo man das Seine empfangen hatte, an den Vater zu wenden, war vollkommen ungebräuchlich. Auch der Mutter gegenüber fiel es – gerade hier – schwer. Conrad zögerte die Tage hin. Er zögerte die Minuten hin, die Viertelstunden. In diesem Zusammenhange dachte er schon an eine Anleihe bei Sophie, dem Stubenmädchen.
Aber auch dies ward verschleppt und versäumt, er wurde alsbald seltsam steif in den Gelenken, wenn es galt, irgendeinen Plan der Geldbeschaffung zu verwirklichen – wozu ja andere Quellen auch noch offengestanden hätten – und in dieser ganzen Sache lag über ihm oder in ihm eine unentrinnbare dumpfe Schwere, welche ihn aber gleichsam hinter sich dreinschleppte und abseits von allen Wegen, die da noch immer wären zu gehen gewesen, und bei einiger Unbefangenheit sogar ganz leicht. Jedoch nicht mehr am Sonntage. Das Mittagessen war eine Qual.
Er fuhr nicht hinaus. Er ging über die Brücke, über welche im Wind eine Staubwolke trieb. Er klingelte bei Lehnder an – und nun war’s geschehen, obwohl es eigentlich noch immer möglich blieb, rechtzeitig am Treffpunkt draußen einzulaufen: er hätte Lehnder um das Nötige bitten müssen. Dieses wäre an sich das überhaupt Leichteste von Anfang an gewesen, nur eben durchsichtigen Zwecks, und schon gar heute, an diesem Sonntage. Daß es unmöglich und ganz ausgeschlossen war, erkannte er im gleichen Augenblick, als er durch den sich nähernden Schritt Alberts nun wußte, daß sein Klingeln nicht vergebens gewesen und jener daheim sei.
Auch dessen Mutter. Conrad begrüßte sie. Während er sich vor der liebenswerten und gescheiten alten Dame verbeugte – sie war eine preußische Schlesierin, ungebrochenen Mutes und hellen Geistes bei aller Veränderung ihrer Daseinsumstände – während dieser Verbeugung also sank unter Conrad die letzte Möglichkeit weg, seine Verabredung einzuhalten, er fand sich dumpf und erleichtert zugleich ins Unvermeidliche geborgen und vor jeder weiteren zweifelnden Überlegung durch einen Wall übermächtiger Umstände geschützt. Ein Wunsch erhob sich sogleich in ihm: jetzt nämlich mit Lehnder beisammen, nicht aber allein zu bleiben. Dieser war’s zufrieden, und so gingen sie nach einer Weile über die Brücke (welche nunmehr in Windstille und warmer Herbstsonne lag) in die Auen und streiften dort herum. Für Conrad lag alles in einem seltsam dünnen Lichte, die sonntäglichen Spaziergänger, Musik aus einzelnen Buden da und dort, eine gleichsam erborgte Wirklichkeit.
Am folgenden Montag fiel der Brief in den Kasten, dessen Inneres dabei von Conrad als ein großer leerer weißer Raum durch einige Augenblicke vorgestellt wurde. Die Genien der Ordnung schwiegen. Sie gaben kein erwartetes Zeichen lebhafter Zustimmung, und das Lebensgefühl stieg nicht etwa hoch wie ein Ballon, der Sandsäcke ausgeworfen hat. Conrad blieb vor dem Kasten ein wenig in der Sonne stehen, empfand die Bewegung der Straße um sich her deutlicher während der eigenen Ruhe, und dann ging er zurück zum Haustore.
»Was hast du ihr geschrieben?« fragte Lehnder am Abend.
»Wie du mir rietest«, sagte
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