Ein Mord den jeder begeht
schon zwölfe«, sagte der alte Veik mit einem Blick auf die Uhr. Fast im gleichen Augenblick erklang die Sirene. Das Verstummen so vielen plötzlich angehaltenen Geräuschs in den umliegenden Gebäuden, dem Hochbau der Spinnerei, dem flachen Shedbau der Weberei, dieses Wegfallen einer verschmolzenen, undeutlichen Masse von Lärm machte nun erst und hintennach ihr bisheriges kaum gewußtes Vorhandensein fühlbar. Es war seltsamerweise wie ein Vorgang tief im eigenen Körper, eine Verschiebung in dessen stillen, ungekannten Funktionen. Auch nebenan, im Büro, war Lautlosigkeit eingetreten, und als kurz danach der alte Herr und Conrad den Raum durchschritten, fanden sie ihn bereits leer.
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Entzückt und betroffen saß Conrad bei und nach Tische der Hausfrau gegenüber, während noch immer das am Vormittag Erlebte in seltsamer Frische und Farbe des Eindrucks nachklang, ja wie ein Wandteppich voll lebendiger Figuren gleichsam hinter dem schönen Haupte der Frau Manon Veik vorbeizog: der Gang über den Fabrikhof an der linken Seite des Geheimen Kommerzienrates, das jetzt so stille Werk, ein Fenster, das Einblick in einen Saal gab und hinter dessen vielen kleinen Scheiben Maschinenteile ragten; dann die Fahrt in dem schweren raschgleitenden Wagen, als sich beim Wenden um einen Häuserblock die vielbelebte und befahrene Hauptstraße der Stadt, wo Conrad vormittags langsam dahingeschritten war, nun überraschend ins Gesichtsfeld gedreht hatte . . .ja, dies alles schwang und zog noch gleichsam hinter dem aufgerichteten Haupte mit den hochfrisierten schneeweiß-dichten Locken, die als eine rechte Rokokoperücke über einem rosigen Gesichte saßen, dessen dunkle Augen ein wenig schräg standen; ihr Blick entfloh, in überlegener Weise, unbestimmt seitwärts, in einer letzten zurückhaltenden Nichtachtung der Dinge, ja, des Gesprächs, an dem doch der breite rote Mund außerordentlich liebenswürdig und aufmerksam teilnahm. Irgendwer hatte Conrad einmal Frauenbildnisse der Pariser Malerin Marie Laurencin gezeigt: hier saß eines lebend: eine junge reizende Frau, als alte Dame verkleidet. Leicht in die Welt gelehnt, unbestimmt und unerforschlich, gemalt in Pastell. Und Conrad nannte Frau Manon Veik von da ab bei sich Madame Laurencin.
Bei alledem entging es Conrad nicht, daß jene von den allerhand Tanten, welche hier in der Stadt lebte, gesprächsweise in einer Art erwähnt wurde, die nicht nur dem Neffen Freundlichkeit erwies, sondern deutlich anzeigte, daß dieses eine Allerhand zu den führenden Kreisen der Stadt gehörte, in gesellschaftlicher Hinsicht. Conrad sprach auch sogleich mit großer Wärme und Nähe von dieser Tante Erika – Frau von Spresse hieß sie im übrigen – erzählte von seinem Knabenbesuche bei ihr, und wie er damals die Stadt hier besehen habe, die ihm heute jedoch ganz anders erscheine.
»Wieder ein Beweis für den Schwerpunkt des Lebens im Subjekt«, sagte der Geheime Kommerzienrat lachend und legte etwas umständlich die Serviette beiseite. »Ich habe einen Bekannten, der vier Jahre in Ostasien zugebracht hat, er war dort in russischer Kriegsgefangenschaft. Die Reise dorthin – in einem Transportzuge mit Viehwagen – dauerte mehrere Wochen, während welcher er Land und Leute und die ganze Eisenbahnstrecke begreiflicherweise mit großem Interesse betrachtete und in sich aufnahm. Vier Jahre später, sagte er mir, sei’s bei der Rückfahrt so gut wie ein anderes Land und wie eine andere Eisenbahnstrecke für ihn gewesen, als ob er dort noch nie gefahren wäre. So ändert sich die Welt mit unserem Zustande, und in der Jugend genügen wohl oft ein paar zwischenliegende Jahre, um sie gänzlich zu verwandeln. Später wird’s eintöniger.«
Conrad folgte im Vordergrunde seines Bewußtseins obenhin dieser Rede des alten Veik, nur so leichthin, wie die Hand ein Geländer entlang streift. Dahinter dachte er deutlich und in Worten:
Heute nachmittags das Quartier ansehen. Dann Wecker prüfen, Arbeitskleider in kleiner Handtasche vorbereiten. Kürzeste Verbindung mit der Straßenbahn, Fahrzeit und Gehzeit zur Fabrik genau ermitteln. Sicherheitshalber eine gute Viertelstunde früher vom Hause Weggehen. Abends Album ansehen. Morgen Tante Erika – offenbar wichtig.
»An jedem liegt es selbst«, sagte Frau Manon, »ich bin in vieler Hinsicht schon lange dieser Überzeugung.«
»Man könnte da vielleicht sagen«, meinte der alte Veik, »daß je mehr einer ist, in um so mehr Fällen liegt – es eben an
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