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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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die ungestaltesten, die dümmsten – Spickzettel aus der Schule, Männchen, die da einst gezeichnet worden sind – man erkennt sie mit einem tiefsitzenden Gefühl der Selbstverständlichkeit, fast wie einen eigenen Körperteil. Dies hier war nicht ungestalt. Der weiße Pierrot oder Harlekin lächelte wie einst unter seiner hohen spitzen Mütze und sah dem Knaben Günther Ligharts ähnlich.
    Conrad schlug das Heft auf und las seine eigene Schrift und wußte genau, daß ihre auffallende Gleichmäßigkeit davon herkam, daß dies alles in einem Zuge und in einer Nacht geschrieben worden war:
    »Café Belstler, mit gestrigem Datum, 6 Uhr 30 Minuten: sie: ich glaubte, für Sie nur als bewährte Kraft zu existieren – er: ganz im Gegenteil, seit Jahren verehre ich Sie schon – sie: Herr Castiletz, das freut mich außerordentlich, aber ich bin doch verheiratet – er: um so besser, ich auch – sie: so etwas hätte ich mir von Ihnen nie erwartet – er: sehe ich denn so alt aus? . . .«
    Unter diesen Daumenschrauben, die während des Lesens schärfer angezogen wurden, rang Conrad unaufhörlich nach einem Wort, das in ähnlicher Weise geeignet wäre, Helligkeit und Ordnung herzustellen, wie früher jenes »Einschlafen« der Fehler . . . aber es kam nichts; und jetzt mußte er das Heft sinken lassen. Dann kam: »Jugendtorheiten«. Das war genau so matt wie »Knabenreich« oder »Kinderland« – damals, als er zum ersten Male auf Urlaub daheim gewesen und mißmutig durch die teils verbauten, teils von Vereinen besetzten und abgesperrten Auen gegangen war.
    Er näherte sich dem Ofen und wollte den schrägen Deckel über der Öffnung heben, durch welche der Koks eingeschüttet zu werden pflegte.
    Er stand beim Ofen und hatte das Heft neben sich auf einen Stuhl gelegt.
    Im Vorzimmer schrillte die Glocke. Conrad ging hinaus, dachte dabei flüchtig an Herrn von Hohenlocher, öffnete und sah draußen die Tellerkappe eines Telegraphenboten.
    25
    Am nächsten Morgen langte Conrad mit dem Schnellzuge in seiner Vaterstadt an und fuhr durch deren breite, lärmende Straßen, die im Licht eines trüben Tages lagen, der sich allenthalben auf das Pflaster mit feuchtem Schleim niedergeschlagen hatte. Der Wagen rollte über die Brücke zum anderen Ufer des Kanales – Conrad bemerkte das übrigens kaum – bog nach rechts, glitschte die Zeile entlang und hielt vor dem Hause, das jetzt nicht mehr das letzte in der Reihe war, denn man hatte inzwischen vier neue hinzugebaut. Auch die Holzstapel gegenüber an der Böschung des Kanals waren verschwunden.
    Die Beisetzung seines Vaters fand erst am übernächsten Tage statt. Das Ende war sanft und schnell gewesen, ein Herzschlag, ärztlich wohl für früher oder später einmal erwartet. Die einzuleitenden Äußerlichkeiten und Kleinigkeiten hatte Tante Berta bereits in dankenswerter Weise rasch und energisch in die Hand genommen. Beim Begräbnis ging der Sohn neben ihr.
    Am folgenden Tage besuchte er nochmals allein den Friedhof und die beiden Gräber seiner Eltern, die nun nebeneinander lagen und gewissermaßen verschmolzen, da sie zusammen unter einem Hügel von Blumen und Kränzen beinahe verschwunden waren. Die weiße Frühjahrssonne hatte sich da und dort in unruhiger Weise durchgesetzt, gitterte in fahl leuchtenden und wieder erblassenden Spielen an fernen Gebäuden und an den Wänden der Einsegnungshalle zwischen dem Gräberfeld. Das Pflaster war da und dort strichweise vom Wind getrocknet; aber hier auf den gekiesten Wegen blieb es feucht und der Boden vor den Gräbern bot sich mit grauem, noch nicht gesproßtem Rasen hart und winterlich.
    Einen Augenblick hindurch wollte es Conrad grimmig im Halse hochsteigen: die Mutter. Dann stockte das.
    Wie ein Feuerstrahl fuhr es aus dem kalten Boden an ihm empor: Marianne.
    Diese Zukunft klaffte, handgreiflich nah. Von seiner Rückkehr an hielt er sich fast jede freie Stunde bei ihr auf, spann sich in den künftigen Besitz ein, und empfand mit besonderem Genuß den leichten Druck von jener Trennungslinie her, welche eine überaus strenge Erziehung in diesem Falle zog: und wenn überhaupt es vorkam, daß Conrad einmal dort flüchtig anstreifte, dann stützte er sich geradezu gerne auf diese Schranke, hinter welcher die Braut stand, ohne viel Überlegens, als könne es gar nicht anders sein. Ihm ahnte, daß ihre Haltung als Gattin vom ersten Augenblicke an umgekehrt die gleiche sein würde. Marion war ein klein wenig strenger geworden in ihrem

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