Ein Mord den jeder begeht
Wagen kam in weiter Kehre vor die Tuchfabrik, rumpelte weich stoßend über das Industriegeleise und hielt vor dem Verwaltungsgebäude. Auf der schmalen, etwas steilen Treppe zum Büro erinnerte Conrad sich seines ersten Hinaufsteigens hier, vor Jahr und Tag, aber das lag nun klein und fern in ihm drinnen, wie durch ein umgekehrtes Opernglas gesehen, im Grunde befremdlich.
»Es gibt eine Neuigkeit«, sagte der Geheimrat, »das heißt, einen neuen Plan. Und ich möchte dich bitten, daß du dich gelegentlich auch mal mit dem Projekte näher befassest, gegebenenfalls auch später, wenn’s zur Ausführung kommen sollte. Wir wollen nicht mehr im Lohn färben lassen, sondern eine eigene Färberei bauen.«
Herr Peter Duracher trat ein und begrüßte Conrad. »Sehen Sie mal, Herr Duracher«, sagte der Geheimrat, »wenn die Färberei projektiert wird, dann lassen Sie’s Herrn Castiletz auch mal ansehen, der interessiert sich dafür.« »Ja, selbstverständlich!« sagte der Prokurist. »Die neuerliche Anregung stammt nämlich von Herrn Duracher«, fügte der Geheimrat hinzu, »und die erste, überschlagsweise Kalkulation scheint mir durchaus ermutigend.«
Conrad fuhr im Werksauto nach Hause und schickte den Wagen wieder in die Gurtweberei. Ein feiner, sprühender Vorhang von Regen trieb mit dem Wind in die Hans-Hayde-Straße herein. Das Stiegenhaus war noch ohne Licht, in tiefer Dämmerung. Als Castiletz den Schlüssel seiner Wohnung ins Schloß schob, öffnete sich am anderen Ende des Ganges die Türe.
»Herr Castiletz«, sagte Herr von Hohenlocher, »ich muß Sie um eine kleine Gefälligkeit bitten, Sie sind ja Techniker, und mich beunruhigt hier ein Umstand, den ich zum erstenmal bemerke.«
Conrad zog den Schlüssel zurück und ging hinüber. »Bitte, haben Sie die große Güte, wenn ich drinnen bin, meine Türklingel einmal in Tätigkeit zu setzen, Sie werden gleich erfahren, worum es sich handelt, ich muß mich nur nochmals vergewissern ...« Damit verschwand Hohenlocher in das dunkle Vorzimmer und lehnte die Gangtüre an. Castiletz drückte auf den Knopf. »Aha, ja, ich habe mich nicht getäuscht!« rief’s von drinnen. »Nun bitte«, sagte er lebhaft, öffnete die Türe für Conrad und schaltete im Vorraum das Licht ein, » – wenn jemand auf den Klingelknopf an meiner Wohnungstüre drückt, dann gibt es hier im Vorzimmer über der Türe, wo die Glocke hängt, einen hellen Funken. Ich bemerkte es eben vorhin, da der Postbote kam und ich selbst öffnen mußte, weil die Schubert im Augenblick nicht hier ist. Ich ging durch das dunkle Vorzimmer und da sah ich den Funken. Ist da vielleicht etwas nicht in Ordnung und kann auf diese Weise ein sogenannter Kurzschluß entstehen?«
Conrad sah zur Oberschwelle der Tür hinauf. Ein seltsames Mißtrauen flog ihn an, und das allein schon hinderte ihn, sich hier nur im allergeringsten wichtig zu machen.
»Nein«, sagte er kurz, »da kann gar nichts geschehen, das ist in Ordnung. Wenn Sie wollen, können Sie ja nochmals läuten und ich seh mir’s im Dunkeln an.«
»Nun?!« rief Herr von Hohenlocher von draußen, »sehen Sic den hellen Funken?!«
»Ja, natürlich«, sagte Conrad.
»Und was ist dort oben los?« fragte Hohenlocher.
»Nichts«, antwortete Conrad mit einer gewissen Bestimmtheit. »Jede elektrische Glocke muß notwendigerweise einen Funken erzeugen, solange sie läutet und also der sogenannte Unterbrecher in Tätigkeit ist. Hier sieht man es nur deshalb, weil der kleine Deckel von Holz, welcher sonst das Gehäuse verschließt, sich geöffnet hat, durch irgendeine Erschütterung, vielleicht von den schweren Tankwagen, die manchmal vorbeifahren. Die Schubert soll auf eine Leiter steigen und das Ding schließen, sonst verstaubt es.«
»Nun, ich bin glücklich und mir fällt eine Last von der Seele«, rief Herr von Hohenlocher. »Ich danke Ihnen vielmals, Herr Castiletz.«
Conrad reichte ihm die Hand, verbeugte sich leicht, sagte kurz »Guten Abend« und ging in seine Wohnung. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte und er in seinem kleinen erleuchteten Vorzimmer stand, hatte er die deutliche Empfindung, sich jetzt richtig verhalten, ja, geradezu gut gehalten zu haben.
Eine plötzliche Nachdenklichkeit überfiel ihn hier in der Stille. Waren irgendwelche Fehler in ihm vielleicht überhaupt im Begriffe – einzuschlafen? Dieses letzte Wort, das er plötzlich als überaus treffend empfand, wirkte jetzt auf Castiletz wie eine Tinktur, welche die Lösung
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