Ein Mord von bessrer Qualität: Ein Fall für Lizzie Martin und Benjamin Ross (German Edition)
wir über den Bahnsteig und an dem gewaltigen, schwarzbraunen Ungetüm von einer Lokomotive vorbei, die immer noch kleine Dampfwölkchen ausstieß wie ein schlummernder Drache.
Hinter der Lokomotive war ein Gepäckwagen und dahinter ein Passagierwaggon mit zum Bahnsteig hin offener Tür. Daneben, auf dem Bahnsteig, wartete eine Gruppe von Menschen einschließlich des unglückseligen Schaffners, der den Leichnam gefunden hatte. Außerdem gehörten zwei neugierige Putzfrauen mit Schrubber und Bürste dazu sowie ein Arzt, der seinen Arztkoffer fest umklammert hielt. Er machte einen äußerst aufgebrachten Eindruck, mit dunkelrot angelaufenem Gesicht und finsterer Miene, als könnte er jeden Moment explodieren.
Burns stellte ihn als Ersten vor. »Das hier ist Dr. Holland«, sagte er. »Er hat den Leichnam untersucht und den Tod bestätigt.«
»Erdrosselt mit einer Schnur«, bestätigte Dr. Holland grollend. »Ein übles Verbrechen, Gentlemen, ein ganz übles Verbrechen! Ist eine allein reisende Frau in diesem Land nicht mehr sicher? In der Eisenbahn? Wer ist dafür verantwortlich?« Er starrte uns mit seinem hochroten Gesicht an.
Ich fürchtete schon, Burns würde auf Konfrontationskurs gehen und seinen Arbeitgeber verteidigen, doch er gab klugerweise die einzige Antwort, die der aufgebrachte Mediziner zu akzeptieren bereit war. »Ich stimme Ihnen zu, Sir. Sie haben absolut recht!«
»Nun ja …«, murmelte der Arzt, fürs Erste abgelenkt von seinen Vorwürfen gegen die London and South Western Railway Company. »Wenigstens ist es schnell gegangen. Die Tote ist eine Frau mittleren Alters und von relativ zierlicher Gestalt. Sie konnte sich nicht gegen ihren Angreifer erwehren.« Er begann erneut sich in Rage zu reden. »Der Kerl, wer auch immer es war, ist ein Monster! Ein Satan in Menschengestalt, nichts anderes! Ich hoffe sehr, dass Sie ihn finden und dass er hängen wird!«
»Ich danke Ihnen, Dr. Holland«, sagte Burns. »Wir tun unser Bestes.«
»Brauchen Sie mich noch länger?«, fragte Holland.
Burns sah mich fragend an.
»Eine Sache noch, Doktor«, wandte ich mich an den Arzt. »Sie schildern das Opfer als zierlich. Wäre es möglich, dass eine andere Frau die Tat begangen hat?«
»Eine Frau?«, empörte sich der Arzt. »Jemanden – eine andere Frau – mit einer Schnur erdrosseln? Das steht vollkommen außer Frage!« Er zögerte, um schließlich widerwillig hinzuzufügen: »Ich sage nicht, dass es nicht machbar wäre. Aber es ist kein Verbrechen, wie Frauen es begehen, nehmen Sie mein Wort darauf. Frauen sind subtile Kreaturen, Sir. Arsen in der Zuckerdose, das würde zu einer Frau passen.«
»Sie haben recht«, murmelte ich, während ich überlegte, welche diesbezüglichen Erfahrungen er wohl haben mochte. »Es ist, wie Sie sagen. Ich wollte nur wissen, wie viel Kraft der Täter aufwenden musste.«
»Sehr wenig!«, schnappte Holland. »Ein Kind hätte es bewerkstelligen können, genau genommen. Sie wollen doch wohl nicht andeuten, dass so etwas hier der Fall ist?«, grunzte er und marschierte davon.
»Er war gerade verfügbar«, erklärte Burns entschuldigend, als der Arzt weg war. »Also baten wir ihn um Hilfe. Er ist nicht der Arzt, mit dem wir normalerweise zusammenarbeiten … Das hier ist Williams.« Burns wandte sich zu dem Schaffner. »Die Gentlemen sind von Scotland Yard, Williams, also erzählen Sie ihnen bitte Ihre Geschichte.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, wie es passieren konnte, Sirs«, sagte Williams. Er war ein junger Bursche von hagerer Gestalt und blickte entschieden unglückselig drein. Er wischte sich mit einem ölverschmierten Taschentuch die Stirn. »Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ich einmal über so etwas stolpere. Es ist furchtbar, einfach furchtbar. Und obendrein in einem Erster-Klasse-Abteil!«
»Sie können weiter berichten, während wir den Tatort in Augenschein nehmen«, sagte ich ungeduldig.
Ich stieg mit Burns in den Waggon, und Williams folgte uns dicht auf den Fersen.
Die ganz in schwarze Trauerkleidung gehüllte Tote saß zusammengesunken in der Fensterecke auf der anderen Seite des Abteils. An der schwarzen Seidenhaube war ein Schleier befestigt. Als der Schleier noch vor ihrem Gesicht gewesen war, musste sie jedem flüchtigen Betrachter wie eine Schlafende erschienen sein. Erst die genauere Inaugenscheinnahme durch Williams hatte enthüllt, dass es sich anders verhielt. Ich musste nicht erst den goldenen Kneifer sehen, um zu
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