Ein nackter Arsch
Kastanie durchaus genügte. Simarek bestellte zwei Bier, eins für Willi und eins für sich, und beschloss, sich mal bezüglich seiner Alterssicherung beraten zu lassen, ein Entschluss, den er schon häufiger gefasst hatte und der auch diesmal unausgeführt bleiben würde. Er hatte keine Angst vor der Zukunft. Aber eine innere Stimme erinnerte ihn hin und wieder daran, dass die Zeit bekanntlich nicht stehen bleibt. Und auch wenn Minister sichere Renten und Pensionen versprachen, wusste er doch, dass ohne private Vorsorge im Alter keine großen Sprünge möglich sind. Doch sobald er dieses dachte, zog ihn jedes Mal ein magischer Gedanke zurück ins Hier und Jetzt, und Simarek verschob alle Planungen auf später. Ein bisschen Geld hatte er auf der hohen Kante, geerbt von seinen Eltern, die zudem für ihn ein Beispiel dafür waren, dass zu viel Vorsorge für die Rente durchaus eine Fehlinvestition sein konnte. Und wem sollte er schon etwas vererben? Für Kinder war es fast schon zu spät in seinem Leben. Mit einem traurigen Blick auf Ansgar zahlte der Kommissar, verließ die Gelbe Kastanie und machte sich zu Fuß auf zur Praxis am Beethovenplatz. Sein Auto wollte er später holen oder am nächsten Morgen, je nachdem, wie der Tag sich weiter so gestaltete.
„Sie sind aber pünktlich. Genau achtzehn Uhr, auf die Sekunde. Ist das eine besondere Tugend von Ihnen?“
Simone Richter war heute ganz in Beige gekleidet. Und da sie zudem blass im Gesicht war, hatte der Kommissar das Gefühl, sie so wieder zu treffen, wie er sie vor zwei Tagen verlassen hatte. Sie sah müde aus, und der Farbton ihrer Kleidung unterstrich diesen Eindruck. Dennoch arbeitete ihr Verstand offenbar scharf, und sie beobachtete genau. Simarek hatte sich tatsächlich bemüht, exakt um achtzehn Uhr aufzutauchen, nicht früher, denn da vermutete er noch Klienten in der Praxis, aber auch nicht später, denn er wollte der Psychotherapeutin keinesfalls zumuten, auf ihn warten zu müssen.
„Sagen wir so“, antwortete er ihr. „Ich wollte Sie auf keinen Fall verpassen. Aber Sie sehen müde aus.“
„Bin ich auch. Supervision ist anstrengend. Für den Kopf und für den Bauch. Normalerweise versuche ich, mir den Tag nach der Supervision frei zu halten. Aber ich habe derzeit so viele Klienten, dass ich mit den Terminen nicht nachkomme. Und es ist merkwürdig: Seitdem Gesine tot ist, fühle ich mich ein bisschen verunsichert.“
„Sie machen sich Vorwürfe?
„Ja und nein. Wissen Sie, Gesine ist meine erste Klientin, die den Freitod gewählt hat. Natürlich weiß ich vom Kopf her, dass solche Dinge vorkommen und nichts mit der Qualität meiner Arbeit zu tun haben. Man kann sogar statistisch voraussagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Therapeut vom Selbstmord eines Klienten betroffen sein wird. Ich kann den Fall analysieren, nach verpassten Chancen suchen oder nach methodischen Fehlern. Das habe ich alles gemacht und nichts gefunden. Aber der Bauch sagt halt auch ‚Unendlich schade‘ und ‚Warum warst du ihr nicht näher, warum hast du nichts gemerkt und unternommen?‘. Sehen Sie, auch Psychotherapeuten fühlen, sie können das, was sie fühlen, vielleicht etwas besser erklären. Fühlen tun sie’s trotzdem.“ Sie lächelte matt.
„Sie sagten beim letzten Mal noch, dass Ihr Vater im Sterben liegt. Das nimmt Sie wohl ziemlich mit?“ Natürlich hatte das nichts mit dem Fall zu tun. Aber Simarek wollte Simone Richter zeigen, dass auch er Anteil nahm am Schicksal seiner Gesprächspartner.
„Ja, das bedrückt mich natürlich. Ich will auch nachher noch nach Bitche fahren.“
„Bitche?“
„Mein Vater hat sich ein Hospiz in Bitche ausgesucht. Dort will er seine letzten Wochen oder Tage verbringen. Er hat beschlossen in Würde zu sterben. Und ich glaube, das gelingt ihm sogar, auch wenn es hart ist, wenn ein starker Mann so schnell alle seine Kräfte verliert. Aber ich fahre so oft wie möglich zu ihm. Außer mir und zwei alten Freunden besucht ihn niemand mehr. Wenn der Tod vor der Türe steht, bleibt so mancher gerne fern.“
„Und Ihre Mutter?“
„Die ist leider schon seit fünf Jahren tot. Ein Verkehrsunfall. Das hat meinen Vater damals stark getroffen. Es ist schwer, wenn einer plötzlich alleine zurückbleibt und sich nicht hat vorbereiten können.“
„Entschuldigung, wenn ich jetzt einen Vergleich ziehe. Aber das kommt mir spontan in den Kopf: Auch Schmidtbauer hat seine Frau vor fünf Jahren verloren. Vielleicht hat dieser
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