Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
du?«
»In Bad Neuenahr, nicht weit von dir entfernt.«
»Oh, Bad Neuenahr, ich weiß, wo das ist, war allerdings noch nie dort. Gehst du bis Santiago und wie viel Zeit hast du?«
»Ja, mein Ziel ist Santiago. Und wenn ich dort angekommen bin, entscheide ich, ob ich weiter bis zum Cap Finisterre wandere. Zeit habe ich genügend. Gehst du auch bis Santiago?«
»Nein, leider nicht. Mein Ziel ist Burgos, dann muss ich wieder nach Hause. Im nächsten Jahr will ich die restliche Strecke bis Santiago und zum Cap Finisterre in Angriff nehmen.«
Mir war nach Bewegung, ich wollte mir den Ort ansehen. Nadine begnügte sich mit ihrem Buch. Im Vorhof traf ich Alice, der ich sagte, dass mir Nadine begegnet sei, die ich sehr nett fände. Alice lächelte. Ich spazierte über den Hauptplatz hoch zur Kirche, in der mich eine ältere Spanierin ansprach und mir anbot, die Kirche zu zeigen. Sie erzählte voller Stolz von ihrem Kölner Freund, der vor nicht allzu langer Zeit die kleine Herberge neben der Kirche betreut hätte. Nun diene sie als Notunterkunft, wenn die neue Herberge überfüllt sei. Die Begegnung mit der freundlichen alten Dame stimmte mich glücklich, und ich empfand sie, wie manche vergleichbare, als kleine Segnung. Nachdem sie erfahren hatte, dass ich nicht weit entfernt von Köln aufgewachsen war, zeigte sie mir die kleine Herberge, in der sich ein Stück Fassade vom Kölner Dom befindet, welches der Kölner Herbergsvater irgendwann aus seiner Heimat mitgebracht hatte. Ich bedankte mich bei ihr und ging zur Herberge, wo ich Alice im Hof vorfand.
Alice erzählte von ihrer Großmutter, die vor kurzem verstorben war, und die sie sehr geliebt hatte. Tränen rannen über ihre Wangen. Ich versuchte, sie zu trösten: »Die Menschen, die wir lieben und die vor uns gehen müssen, bleiben uns auf irgendeine Weise erhalten. Ihre Liebe, ihr Lachen, ihre Stimme, ihre Gesichter, und was wir sonst noch mit ihnen geteilt haben, leben weiter in uns. Erinnerungen an sie leben weiterhin in uns. Ich glaube, dass es wichtig ist, die Verstorbenen in Liebe gehen- und loszulassen.« Wir redeten lange miteinander an diesem milden Abend.
Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.
Altes Testament
7 Besondere Begegnungen
Mein Wunsch hatte sich in Gestalt des nichtschnarchenden Michael erfüllt. Ich wunderte mich über die Schnelligkeit, mit der die meisten Peregrinos ihre morgendlichen Aktivitäten erledigten. Das Packen war nun auch bei mir zur Routine geworden. Als ich von der Morgentoilette zurückkam, lag Michael noch in seinem Schlafsack. Er genoss die Ruhe eines Zweibettzimmers, die nicht häufig auf dem Jakobsweg zu finden war.
Im Aufenthaltsraum besorgte ich mir am Automaten einen heißen Kaffee und setzte mich an einen der langen Tische. Beim Verlassen der Herberge kam mir Nadine entgegen. Ihr Anblick erfreute mich. Wir sprachen kurz miteinander, bevor ich meinen Fuß auf den Weg setzte. Santiago war noch weit. Ich musste an die Kathedrale und meine Ankunft denken. Wann wird es geschehen? Wie viele Tage sind es noch?
Schnell fand ich meinen Rhythmus und stellte fest, dass ich immer wieder unbefangen in den neuen Tag aufbrach. Ohne Erwartungen, ohne Wünsche ging ich los und vertraute Gott, dem Tag, mir und meinem Weg. An jenem Morgen wurde mir dies so richtig bewusst. Es war ein schönes Gefühl, keine Wünsche haben zu müssen. Ich musste an das Wort »Freiheit« denken. »Ja, es macht frei«, sprach ich leise. Wer Wünsche und Erwartungen hat, macht sich oft abhängig davon. Wünsche können Menschen in Besitz nehmen. Sie denken an nichts anderes mehr, konzentrieren sich nur noch auf das »Eine, Große« und verschließen sich so den wundervollen Dingen, die ihnen tagtäglich begegnen.
Die Kühle des jungen Tages veranlasste mich, meinen Schritt zu forcieren. Der erste bekannte Peregrino, der zu mir aufschloss, war Michael. Ein Stück des Weges legten wir gemeinsam zurück. Michael, kräftig und groß gewachsen, 35 Jahre jung, stellte schnell fest, dass ich für seine Verhältnisse viel zu langsam ging. Er zog alleine weiter. Ich war mir sicher, ihn bei dem Tempo, das er vorlegte, nie wieder zu sehen. Mir machte es nichts aus, überholt zu werden. Ich machte eine Pause und zog meine Schnürsenkel fester an. Nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte, blickte ich in das Gesicht von Nadine.
»Hallo Mano.«
»Hallo Nadine, du bist ganz schön schnell unterwegs.«
»Ich gehe mein Tempo.«
»Ja, ich
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