Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
Wegmarkierungen die Entfernung nach Santiago abzulesen. Bis zur 100-Kilometer-Anzeige war es nicht mehr weit. Es war schon etwas Spezielles, nach all den vielen Kilometern auf die magische Grenze zuzugehen. Dann wäre ich 700 Kilometer gewandert. »Nicht schlecht«, dachte ich. Und die letzten hundert schaffe ich auch noch. An der 100-Kilometer-Marke entdeckte ich einen weißen Zettel unter einem Stein. Ich holte ihn hervor und begann zu lesen: »Hallo, Mano, jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt und nun haben wir nur noch hundert Kilometer vor uns. Alles Gute, mein Freund! Michael.« Ich musste weinen.
Gedankenversunken pilgerte ich durch kleine Ortschaften, segnete die Menschen, sah Pilger auf freiem Feld an mir vorbeiziehen, segnete auch sie, sah Kühe auf der Weide, segnete sie, sah Bäume, Blumen, den Himmel, die Wolken... und wunderte mich, als der See von Portomarín vor mir lag. Es war nicht mehr weit bis zur nächsten Herberge. Ich war müde. Leider war die neue große Herberge bis auf das letzte Bett belegt. Doch glücklicherweise bekam ich einen Platz in der alten, die sich gleich gegenüber befindet, und in der ich zu meiner Freude Michael vorfand.
Während des Duschens stand Michael neben mir, der lauthals lachte, obwohl das Wasser eiskalt war: »Du wirst noch zum Profi-Peregrino«, polterte es aus ihm heraus. Er amüsierte sich über meine Socken, die sich noch an meinen Füßen befanden, genauso wie die Unterwäsche, die ich am Körper trug und auf diese Weise gleich mitwusch. Ich stimmte in sein Lachen mit ein. So konnte uns das kalte Wasser nichts anhaben. Während des Duschens versuchten wir neue Strophen für mein Peregrino-Lied zu kreieren, was uns nicht so recht gelingen wollte. An diesem Tage wurde das Wort »Profi-Peregrino« geboren. Ich zog mich an, hängte meine Wäsche zum Trocknen in die Sonne und machte mich auf, Portomarín zu erkunden.
»Heee! Mano! Was machst du denn hier?«, rief mir Constantin, mit dem ich die ersten Kilometer meines Weges zurückgelegt hatte, entgegen. Augenblicke später lagen wir uns in den Armen. »Hallo! Constantin, du hier? Das glaube ich nicht. Freut mich riesig dich noch mal zu sehen.«
»Brigitte und Rainer sind auch hier. Sie müssen in irgendeinem Laden sein. Komm, ich bringe dich zu ihnen. Die werden sich freuen.«
»Und ich erst. Erzähl mal, wie war der Weg für dich? Was hast du erlebt? Wie geht es Deinen Füßen?«
»Nun mal langsam, Mano«, unterbrach Constantin mich. »Lass uns erst einmal sehen, wo Rainer und Brigitte sind.«
Minuten später lagen Rainer und ich uns in den Armen: »Heee! Mano! Das darf nicht wahr sein! Ist ja toll, dass wir uns noch mal sehen. Wir haben oft von dir gesprochen und nicht mehr damit gerechnet dich wiederzusehen. Komm mit, Brigitte ist in dem Laden dort drüben. Die wird Augen machen.«
Vor lauter Freude bekam ich den Mund nicht mehr auf. Mir fielen sogleich Rainers Augen auf, die sich seit unserem Abschied in Cizur Menor grundlegend verändert hatten. Sie strahlten. Wir gingen in den besagten Laden: »Mano! Ja, was machst du denn hier? Ich dachte, dich sehen wir nie wieder«, lachte Brigitte und drückte mich.
Constantin, der zwei Flaschen Rotwein in seiner schmucken weißen Plastikeinkaufstüte mit sich trug, hatte die glänzende Idee erst mal zur Herberge zu gehen, um ein Gläschen Wein auf unser Wiedersehen zu trinken. Es war äußerst spannend, von den Erlebnissen meiner ersten Wegbegleiter zu erfahren. Und es war interessant zu hören, dass sie zwar den gleichen Weg wie ich zurückgelegt, doch völlig andere Begegnungen und Ereignisse hinter sich hatten. Mit zwei freudestrahlenden Augen erschien Angelika. Sie folgte unserer Einladung und trank ein Glas Wein mit uns. Auch an Angelikas Augen stellte ich eine Veränderung fest. Dass sie schöne blaue Augen hatte, wusste ich. Ich hatte sie noch gut in Erinnerung. Doch nun glänzten sie. Ich gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass der Jakobsweg die Menschen auf wundersame Weise verändert. Ich musste an Michael denken, der sich innerhalb von zwei Wochen enorm verändert hatte. Der Jakobsweg bekam in meinem Bewusstsein einen immer höheren Stellenwert.
Angelika blieb nicht lange. Weil Rainer und Brigitte noch etwas erledigen mussten, spazierte ich in den Ort, wo ich Michael, Tanja, Meike und Norman vor einem Restaurant sitzend entdeckte. Constantin war mit anderen Pilgern zum Essen verabredet. Rainer und Brigitte gesellten sich später zu uns. Es war
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