Ein Ort zum sterben
Straßen wimmelte es von kostümierten Gestalten mit lila Glitzerhaar und Monstermasken. Es war der Halloween-Abend. Eine Riesenzahnpastatube stolzierte an ihm vorbei, gefolgt von einer Grünpflanze auf zwei Beinen. Dann kam, in Begleitung von zwei wachsamen Müttern, eine Gruppe von Werwölfen und Unholden, die ihm nicht mal bis zur Gürtelschnalle reichten. Kinder ohne Leibwache sah man heutzutage kaum mehr auf New Yorks Straßen. Das kleinste Monster trug eine Gruselmaske aus dem neuesten Sciencefiction-Streifen und machte »Buh!« Riker hob in gespieltem Erschrecken die Hände. »Bitte tu mir nichts!« Die Kinder lachten, und die Mütter drängten zur Eile. Junge, Junge, dich hat wohl noch keiner das Fürchten gelehrt, dachte Riker, während er in Richtung Polizeirevier weiterging.
»›Der Paladin wird sterben!‹ Das geht auf Mallory, nicht?«
Die Schrift war unter dem Schleier von Scheuerpulver nur noch schemenhaft zu erkennen. Charles, dem beim Lesen buchstäblich die Luft weggeblieben war, hatte auch jetzt noch Mühe mit dem Atemholen. Edith verließ, ein Papiertaschentuch zwischen den Fingern zerbröselnd, rasch die Küche.
Er ging ihr nach. An der Tür zur Bibliothek blieb er stehen und bemerkte sofort das Durcheinander auf dem achteckigen Tisch. Unter einer Zeitung sah die Ecke eines verschnörkelten Silberrahmens hervor. Er warf einen raschen Blick zum Kaminsims hinüber. Ja, die drei Rahmen waren noch da. Dieser hier war offenbar der vierte aus dem Satz.
Edith zupfte ihn am Ärmel. »Ich bin etwas mitgenommen, Charles, und eigentlich gar nicht auf Besuch eingestellt …«
Wortlos trat er an den Tisch heran. Neben dem Silberrahmen lag ein großer brauner Briefumschlag von einem New Yorker Ausschnittdienst. Er nahm die Zeitung weg. In dem Silberrahmen steckte eine Großaufnahme von Mallory. Er kannte das Bild, es war auf der Beerdigung von Louis Markowitz entstanden. Wie eine Gefangene wirkte sie unter dem Glas. Mit zwei Schritten war Charles bei Edith und packte sie bei den Schultern.
»Wer wird Mallory umbringen, Edith? Wer?«
»Das kann ich dir nicht sagen, so weit reicht meine Gabe nicht.«
»Zum Teufel mit deiner Gabe! Du hast sie in die Falle laufen lassen. Wer wird sie umbringen?«
»Was redest du denn da …«
Er nahm das Bild der jungen Braut vom Kaminsims. »Ihr Verlobter wohnte hier im Haus. Er hieß George Farmer. Am Vorabend der Hochzeit tötete er seine Braut und richtete die Waffe dann auf sich selbst. Seit jenem Tag vegetiert er in einem Pflegeheim dahin und starrt an die Decke. Ab und zu lallt er ein paar Worte vor sich hin. Aber weil er nicht tot ist, hat er keinen Silberrahmen verdient. So läuft das doch, stimmt’s?«
»Meine Gabe ist eine schwere Last, Charles. Ich habe natürlich versucht, die Katastrophe zu verhindern. Leider vergeblich.«
»Vergeblich? Es darf gelacht werden, Edith. Nach deinen abartigen Maßstäben war das Unternehmen ein voller Erfolg. Und Onkel Max? Du hast ihn abgelenkt, gerade dich hatte er an jenem Abend nicht sehen wollen. Deshalb haben meine Eltern mich nie mehr zu dir gebracht. Sie wußten, daß du seinen Tod herbeigeführt hast. Und jetzt hast du Mallory in den Tod getrieben. Raffiniert gemacht, das muß dir der Neid lassen. Die alten Damen … die Séancen … eine bessere Quelle für Insidertips kann man sich gar nicht wünschen. Wer wird sie umbringen, Edith?«
»Wie du redest, Charles … ich kann es gar nicht fassen …«
»Eigentlich hattest du einen Unfall mit Herbert und seinem Revolver inszenieren wollen. Als Opfer war diesmal Martin ausersehen. Nur eine kleine Sache für zwischendurch, um nicht aus der Übung zu kommen … Aber Herbert ist ein jämmerlicher kleiner Angsthase und wahrscheinlich keine rechte Herausforderung für dich.«
»Charles, du bist außer dir, du–«
»Und dann kam Mallory, jung, sprühend vor Gewalttätigkeit, vor Haß, vor geballter Energie, und da hast du deine Pläne geändert, stimmt’s? Wo ist sie?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie in Gefahr ist.«
»Das glaube ich dir aufs Wort.«
Er tippte auf den Silberrahmen. »Aber Kathleen Mallory wirst du nicht bekommen.« Mit einem Faustschlag zerschmetterte er das Glas und befreite ihr Bild. Aus einer tiefen Schnittwunde an seiner Hand quoll Blut. Der rote Abdruck einer Handfläche blieb auf der Tür zurück, als er mit dem zerknüllten Foto von Mallory in der heilen Hand die Wohnung verließ.
Videogerät, Farbfernseher und der
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