Ein Ort zum sterben
Hifi-Turm waren ein Traum für Stereofreaks und Einbrecher. Die abblätternde Tapete, der abgetretene Teppich und der Geruch nach Nudelsoße paßten dazu wie die Faust aufs Auge. Durch das geöffnete Fenster zum Luftschacht, durch das die Wärme abziehen sollte, die der tickende Heizkörper verbreitete, kamen Schwaden von Müllgestank.
Mit stierem Blick hinkte der Dobermannwelpe herein. Der kleine Junge saß auf dem Fußboden vor dem Fernseher. Mallory stand einen knappen Meter von ihm entfernt, aber er sah wie aus weiter Ferne zu ihr hoch. Der Blick der gelben Augen folgte ihr, als sie Redwing ins Nebenzimmer nach ging. Die Küche-Bad-Kombination hatte die gleichen Proportionen wie das Wohnzimmer. Hinter einem lila Duschvorhang sah man die Klauenfüße einer Badewanne. Das schmuddelige Stück Stoff vor der Toilette – schwarze Orchideen auf goldenem Grund – bot immerhin Sichtschutz. Als Geruchshemmer war er weniger geeignet.
»Setzen Sie sich«, befahl Redwing und bleckte lächelnd die Zähne.
Mallory setzte sich an den mit verkrusteten Soßenflecken und Abendessenresten bedeckten breiten Tisch.
»Wir werden jetzt Tee trinken«, erklärte Redwing und trat an die Arbeitsfläche, wo lange Reihen von Gläsern ohne Etikett standen, die mit getrockneten Blättern und den verschiedensten Pülverchen gefüllt waren. Aus einem Schrank holte sie zwei Teetassen, die ersichtlich nicht aus demselben Service stammten.
»Für mich nicht, vielen Dank.« Mallory verfolgte den Weg einer Kakerlake, die an dem verschmierten Toaster hoch krabbelte. In dieser Küche hatte jedes Ding seinen Platz, aber jeder Platz war verkleistert mit allem, was dort gestern oder vor einem Monat verschüttet worden war. Sie schüttelte eine Kakerlake vom Schuh, als täte sie so was alle Tage.
»Sie müssen den Tee trinken.«
»Warum?«
»Weil er dazugehört. Ihr Cops habt eure Arbeitsmittel, ich habe meine. Wenn Sie was von mir wissen wollen, müssen Sie mich auf meine Art arbeiten lassen.«
Mallory nickte. Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich der Junge in der Tür. Er war in Strümpfen. Wie still er war. Sie hatte ihn noch nie sprechen hören. Er hielt Mallory mit seinem Blick fest. Redwing sagte etwas auf französisch zu ihm, und er kletterte mit den traumverlorenen Bewegungen eines Schlafwandlers auf einen Stuhl, um eine Blechdose vom Regal zu holen. Ein weiterer Befehl, und er holte das Honigglas. Wie an einer Schnur dirigierte Redwing ihn hierhin und dorthin.
Mallory ließ ihn nicht aus den Augen. Was hatte Redwing mit ihm gemacht? Er trug Jeans und ein T-Shirt wie andere Kinder, aber das war auch das einzige Normale an ihm. Wie ein kleiner Automat tappte er zu Mallory und stellte das Honigglas vor sie auf den Tisch. Redwing hatte ihnen den Rücken gekehrt, und Mallory streckte die Hand nach dem Kindergesicht aus. Der Vorhang vor seinen Augen hob sich kurz und gab den Blick auf etwas Blankes, Flinkes frei – ein verborgenes Eigenleben. Mallory lächelte, und der Junge gab das Lächeln ein wenig unsicher zurück. »Ich komme dich holen«, verhieß ihr Blick, während ihre Hand die glatte junge Haut streichelte. Die Kinderaugen wurden groß und rund, dann senkte sich der Vorhang wieder, und sie waren nur noch trübe gelbe Scheiben, die nichts preisgaben.
Die Wanduhr tickte laut, der Teekessel pfiff. Der überforderte Heizkörper stöhnte und spie mehr Hitze aus, als der Raum verkraften konnte. Redwing schloß das einzige Fenster. Der Junge zog sich zögernd zur Tür zurück.
Behutsam stellte Redwing die Teetassen auf den Tisch. »Trinken Sie!«
Mit einer heftigen Bewegung scheuchte Mallory die schwarze Fliege weg, die sie umsummte. Als sie die Tasse an die Lippen hob, erschien ihr plötzlich Helen und deutete auf die Lippenstiftspuren am Tassenrand. Im aufsteigenden Dampf verging das Bild. Mallory nahm einen Schluck Tee. Er war gut und auch ohne den Honig, den Redwing in ihre Tasse gab, süß genug.
»Sie wollen also Näheres über Pearl Whitman wissen. Das ist die Frau, die zusammen mit Ihrem Vater gestorben ist, nicht?«
Mallory nickte und nahm noch einen Schluck.
»Ich habe früher einmal meine Dienste der Polizei angeboten, wußten Sie das? Nein? Man hat mich weggeschickt. Danke bestens, kein Bedarf, hieß es. Und dann taucht gestern Abend Lieutenant Coffey auf und will, daß ich ihm alles mögliche erzähle. Da kann er lange warten. Scheißcops. Aber Sie gehören ja nicht mehr dazu, Sie haben ein privates Anliegen.
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