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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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aus und fuchtelte mit den Fäusten. Mallory verstand nur: »Du mich nicht bescheißen, du Miststück.«
    Er war mindestens dreißig Zentimeter kleiner als sie und mußte zu ihr aufsehen. Dazu kam, daß sein Fahrgast keine gewöhnliche dicke Frau, sondern eine ausgesprochen majestätische Erscheinung war. Sie beugte sich zu dem Fahrer hinunter, sah ihn eindringlich an und sagte ein paar Worte, die nicht zu verstehen waren.
    Im Nu war der Fahrer wieder an seinem Taxi, riß die Wagentür auf und dabei fast aus den Angeln, hechtete ans Steuer und brauste mit Vollgas davon.
    Mallory nickte anerkennend. In diesem Augenblick genoß das Zentnerweib ihren vollen Respekt.

 
    Charles Butler klopfte mit der Schuhspitze auf den Boden und versuchte, durch schiere Willenskraft den Fahrstuhl zu einer schnelleren Gangart zu bewegen. Zehn Minuten Verspätung würde ihn diese Trödelei kosten. Im günstigsten Fall. Vorausgesetzt, es gab nicht noch einen Zwischenstopp. Irritiert sah er auf die übrigen Fahrgäste hinunter, die offenbar aus lauter Bosheit den Fahrstuhl in jedem zweiten Stockwerk halten ließen.
    Er hatte sich mit Mallory sechzig Blocks weiter südlich und ebenso viele Stockwerke tiefer verabredet, und sie würde natürlich pünktlich zur Stelle sein. Zur vollen Stunde – nicht eine Sekunde früher und nicht eine Sekunde später – würde sie vor seiner Tür stehen. Sie war nicht nur eine Ordnungsfanatikerin, sondern auch ein Pünktlichkeitsfreak.
    Und jetzt fiel ihm siedend heiß ein, daß er ja noch einen weiteren Grund zur Sorge hatte, nämlich den Zustand seines Büros, das in einem kürzlich freigewordenen Apartment gegenüber von seiner Privatwohnung lag. Sämtliche Räume waren mit Papier- und Bücherstapeln vollgestellt und ein Paradies für Spinnen und Hausstaubmilben.
    Der Fahrstuhl hielt erneut, und Charles funkelte den einsteigenden Fahrgast wortlos an. Hatte dieser Typ nicht den ganzen Vormittag Zeit gehabt, mit dem Fahrstuhl auf und ab zu gondeln? Andererseits hatte die Verspätung möglicherweise auch ihr Gutes. Vielleicht war Mallory noch mal weggegangen, so daß ihm genug Zeit blieb, um sein Büro aufzuräumen.
    Einen ersten, nicht sehr erfolgreichen Anlauf hatte er vorhin schon gemacht, ehe er aus dem Haus gegangen war. Überall war Zeugs herumgelegen. Steuerformulare quollen aus Schubläden und Kartons, dazu kam der umfangreiche Papierkram, mit dem er sich als Hausbesitzer neuerdings herumschlagen mußte. Die Regale für Hunderte von Büchern und Fachzeitschriften waren angeschafft, aber noch nicht eingeräumt.
    Was würde Kathy zu dem Chaos sagen? Vielleicht hielt sie es für das Werk eines Einbrechers. Notfalls konnte er Entsetzen mimen, wenn er die Wohnung betrat.
    Dann war Mrs. Ortega, seine Putzfrau, eingetroffen. Charles, der auf dem Fußboden herumkroch und sich verzweifelt bemühte, einige Handbreit Teppichboden freizuschaufeln, war aufgesprungen, als er es gegenüber hatte schließen hören, hatte den Kopf durch die Tür gestreckt und ihr erwartungsvoll zugelächelt, aber ihre ablehnende Miene hatte all seine Hoffnungen im Keim erstickt. Wortlos war sie in seiner Privatwohnung verschwunden, für die allein sie sich verantwortlich fühlte.
    In Mrs. Ortegas Augen war Charles Butler eine exotische Erscheinung, ein Besucher von einem anderen Stern vielleicht, jedenfalls keiner dieser ganz normalen Zweibeiner, wie sie auf dem ihr vertrauten Stückchen Erde, einem eng begrenzten Latinobezirk in Brooklyn, herumliefen.
    Daß er auf seine Mitmenschen ein bißchen fremdartig wirkte, war ihm durchaus klar. Er hatte eine behütete Kindheit und Jugend in einer Akademikerfamilie hinter sich gebracht und war nach dem Studium in ein Forschungsinstitut gegangen, wo er ebenfalls nur mit seinesgleichen zu tun gehabt hatte. Mit dem wirklichen Leben war er erst vor kurzem in Berührung gekommen. Als er Mrs. Ortega vor einem Jahr seine neue Adresse mitgeteilt hatte, hatte sie ihn gar nicht erst gefragt, was ihn von den breiten Boulevards der Upper East Side in die schmalen, immer ein wenig schmuddeligen Straßen von Soho getrieben hatte, denn sie wußte ja, daß Außerirdische anders fühlen und denken, als es in Brooklyn üblich ist.
    Ehe er zu seinem Termin im sechzigsten Stockwerk eines Wolkenkratzers aus dem Haus gegangen war und seine Aufräumarbeiten hatte einstellen müssen, war er so verzweifelt, daß er am liebsten mit dem Flammenwerfer Ordnung geschaffen hätte.
    Der Fahrstuhl hielt schon wieder.

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