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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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Erklärung geben. So clever der Mörder auch sein mochte – er war weder unsichtbar noch ein übernatürliches Wesen.
    Das Programmheft rutschte aus dem Aktendeckel auf den Wagenboden. Sie warf einen Blick auf den fett gedruckten Titel. Radio Days hieß die Inszenierung der Studenten des Barnard College, die Mallory nur deshalb interessierte, weil auch eine Folge aus der Shadow-Serie so hieß. Sie kannte die Texte auswendig. Im Keller des Hauses in Brooklyn lagen Markowitz’ alte Platten, er hatte die ganze Palette der damaligen Popmusik gesammelt, von Artie Shaw bis hin zu Elvis, er mochte die Lone Rangers und Johnny Dollar, aber den Shadow, den Schatten, hatte er besonders ins Herz geschlossen. An zahllosen Samstagen hatte Mallory neben ihm gesessen und sich die alten Aufnahmen aus den vierziger und fünfziger Jahren angehört.
    Die meisten Väter in ihrem Viertel hatten sich im Keller eine Werkstatt eingerichtet und dort Möbel zusammengezimmert, weil ihnen das die Frauen in den Wohnräumen nicht erlaubten. Markowitz bastelte in seiner Werkstatt an Phantasiewelten für ein Kind, das in seinem kurzen Leben ein Übermaß an Wirklichkeit erfahren, das sich aus Mülltonnen ernährt und in Hauseingängen und alten Pappkartons geschlafen hatte.
    Der Held der alten Radioserie hatte die Gabe, den Menschen den Verstand zu trüben und sich unsichtbar zu machen.
    »Blödsinn«, hatte sie damals zu Markowitz gesagt. »Das kann der nicht. Das kann keiner.«
    »Er kann so tun, als ob, Kathy«, hatte Markowitz gesagt und zu ihr heruntergesehen, denn damals war sie noch viel kleiner gewesen als er.
    »Nee. Wer so’n Scheiß schluckt, hat doch ’ne Meise.«
    »Man sagt nicht Scheiß, Herzchen«, sagte Helen, die unten an der Kellertreppe aufgetaucht war, um dem Kind, das dicht am Ofen saß, einen Pullover umzuhängen. »Sie kann unmöglich frieren«, hatte Markowitz protestiert. Kathy hatte gefröstelt, Helen zuliebe, und Markowitz hatte gesagt: »Siehst du, Kleines? Genau das hab ich gemeint.«
    Mallory hatte ihren Wägen in der Nähe des Players’ Club geparkt. Sie rutschte tiefer in ihren Sitz, als sie Jack Coffey sichtete, der mit dem Pförtner sprach. Jetzt verschwand er in dem Haus, in dem die Polizei einen Beobachtungsposten eingerichtet hatte. Hier, an dieser Stelle, hatte man in einem Wagen mit getönten Scheiben das zweite Opfer, Jonathan Gaynors Tante, gefunden. Auch der zweite Mord war kühn gewesen, aber nicht so verblüffend wie der erste, der unter den Augen sämtlicher Anwohner geschehen war.
    Auch Estelle Gaynor war am hellichten Tag brutal ermordet worden – kaum zu fassen in einem Viertel, in dem so viel altes Geld und neuer Rockstar-Reichtum zu Hause waren. Pearl Whitman, das dritte Opfer, war aus der Reihe getanzt, war in einem Abbruchhaus, einer verkommenen Gegend gestorben. Warum? Und was hatte Markowitz, der alte Fuchs, gesehen, was Mallory entgangen war? Pearl Whitman irritierte sie, weil die alte Dame keine Erben hatte. Außerdem machte ihr die durch den Bericht der Börsenaufsicht belegte Querverbindung zu Edith Candle zu schaffen, die bei Charles Butler im Haus wohnte – vielleicht auch deshalb, weil sie so wenig über diese Frau wußte. Edith Candle verstand es offenbar besonders gut, ihr Privatleben dem öffentlichen Zugriff zu entziehen.
    Gegenüber hielt wieder ein Taxi. Durch das Rückfenster sah man Einkaufstüten und bunten Stoff, ein weißes und ein braunes Gesicht. Als die hinteren Türen sich öffneten, quollen aus dem Innenraum ungeahnte Mengen an Krimskrams sowie ein kleiner Junge und ein Dobermannwelpe hervor. Gleichzeitig war auch der Taxifahrer ausgestiegen. Die prall gefüllten Einkaufstüten leuchteten in allen möglichen Farben. Ein gebrechlicher kleiner Klapptisch lehnte am Wagen, der Fahrer stapelte Schachteln zu einem wackeligen Turm, der Junge mühte sich mit einem alten Trichtergrammophon.
    Die Frau, die in diesem Moment durch die Beifahrertür dem Taxi entstieg, hätte nach normalen Maßstäben gar nicht hineingepaßt. Die Zaubervorstellung ging weiter. Sie war mindestens einsachtzig und ungeheuer ausladend.
    Jetzt zeterte der Taxifahrer lautstark auf die Frau ein, weil er mit dem Trinkgeld nicht zufrieden war. Er war Araber und offenbar noch nicht lange im Land, denn sein Englisch war nahezu unverständlich und sein Talent, sich mit einer amerikanischen Frau auseinanderzusetzen, ohne handgreiflich zu werden, gleich Null. In seinem Frust stieß er unartikulierte Schreie

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