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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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Eine Frau mit einem zehn- oder elfjährigen Jungen stieg ein. Während die Türen sich schlossen, streckte das Kind die Hand aus und drückte zehn Knöpfe gleichzeitig.
     
    Mrs. Ortegas Mutter, eine Irin, hatte die gleichen grünen Augen wie die Fremde vor der Wohnungstür. Nur war Ma kein Cop. Für Mrs. Ortega war der Fall klar, als die Besucherin sie kurz und knapp anwies, ihr Mr. Butlers Büro zu öffnen. Eine Kriminale, keine Frage.
    Weisungsgemäß schloß sie auf. Für Mrs. Ortega stellte das, was sich hinter der Tür zu Charles Butlers Büro verbarg, eine Hölle für Putzfrauen dar, die auf Erden schwere Schuld auf sich geladen hatten. Daß Mr. Butler ihr den Schlüssel gegeben hatte, war ihr gar nicht recht. Am Ende dachte er noch, sie würde sich irgendwann erweichen lassen, dort auch sauber zu machen. Aber da hatte er die Rechnung ohne Shannon Ortega gemacht. Sie kannte ihre Rechte. Zwingen konnte er sie zu so was nicht.
    Zuerst hatte sie sich natürlich gefreut, als die Wohnung gegenüber frei geworden war und Mr. Butler sein Büro ausgelagert hatte. Damit kamen ihr die widerlichen Papier- und Bücherberge aus den Augen, und er lief ihr beim Staubsaugen und Wischen nicht ständig vor die Füße. Aber da drüben so was wie Ordnung herzustellen war praktisch ein Ding der Unmöglichkeit, damit wollte sie nichts zu tun haben. Ein für allemal nicht! Aus die Maus! Schön, die Wände waren frisch getüncht, aber das war auch schon alles. Die Fensterscheiben waren wie aus Milchglas, und zwischen den Papier- und Zeitungsstapeln spannten in dem beruhigenden Gefühl, daß ihnen hier nichts passieren konnte, bedachtsam Spinnen ihre Netze. In die anderen Zimmer hatte sie nicht mal einen Blick geworfen, das wollte sie ihrem schwachen Herzen nicht zumuten.
    Ach du dickes Ei, dachte Mrs. Ortega, als sie die Kriminale lächeln sah. Es war kein freundliches oder zufriedenes Lächeln. Die Kriminale lächelte wie eine Katze, die eine zappelnde Maus zwischen den Zähnen hat.
     
    Der Fahrstuhl war kurz vor dem fünfzehnten Stock stecken geblieben, und in der Finsternis berieten die Fahrgäste, was zu tun sei, wenn die Kabine abstürzte. Einer hatte irgendwo gelesen, man solle auf und ab springen. »Dann hast du nämlich«, erläuterte er seinen faszinierten Zuhörern, »eine Fiftyfifty-Chance, daß du gerade in der Luft bist, wenn die Fahrstuhlkabine nach unten kracht.«
    »Und daß Sie sich dabei die Beine brechen«, ergänzte Charles. »Denn Ihre Fallgeschwindigkeit ist ja dieselbe wie die des Fahrstuhls.«
    Erstaunlicherweise war der Elfjährige der einzige, dem die Gesetzmäßigkeiten von freiem Fall und Schwerkraft einzuleuchten schienen. Die anderen hopsten wie wild in der Gegend herum.
    Von draußen ermahnte ein Feuerschutzbeauftragter sie über Lautsprecher, Ruhe zu bewahren. »Hört auf mit dem Blödsinn, ihr Knallköppe!«
     
    Mrs. Ortega wich bis an die Wand zurück. Die Kriminale hatte ihr geschickt den Fluchtweg abgeschnitten.
    »Ich nicht können Englisch«, sagte sie. Dabei sprach sie, Amerikanerin in der vierten Generation, kein Wort Spanisch, dafür aber um so geläufiger New Yorkerisch.
    Nachdem er den Straßennamen ein paarmal geduldig wiederholt hatte, war Charles mit dem des Englischen nicht mächtigen Taxifahrer zu einer gütlichen Einigung gekommen. Leider entpuppte sich der Mann als enttäuschend gesetzestreu und ließ jeden beruflichen Ehrgeiz vermissen. Er machte keine gewagten Überholmanöver, nahm vor jeder Ampel, die auf Gelb stand, brav Gas weg und sah gewissenhaft nach rechts und links, ehe er bei Grün über die Kreuzung fuhr.
    Es war zum Auswachsen.
    Charles verkrampfte sicherheitshalber die Hände im Schoß, um dem Fahrer, der offenbar zum ersten Mal am Steuer eines Taxis saß, nicht vor lauter Ungeduld den Hals umzudrehen. Das würde schon der nächste Fahrgast besorgen.
     
    Charles traf Mrs. Ortega auf dem Gang. Mit gesenktem Kopf, den Blick auf den Teppich geheftet und entschlossen, sich auf ihrem Weg zum Fahrstuhl und in die Freiheit nicht aufhalten zu lassen, eilte sie an ihm vorbei. »Wiedersehen! Bis zum nächsten Mal«, sagte Charles freundlich, was ihm als Antwort nur ein wütend gezischtes »Scheißcops!« eintrug.
    Die Tür zum Büro stand offen. Er ging durch die kleine Diele und betrat eine Welt der Ordnung. Die Fenster blinkten, Teppich und Schreibtisch waren vom Papierwust befreit, man sah wieder die schöne dunkle Maserung der Schreibtischplatte, so wie er sie von

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