Ein Ort zum sterben
Hausmeister hatte, kamen sie mit allen Beschwerden erst zu ihm. Sie waren schlimmer als seine Klienten, die meldeten sich wenigstens an oder setzten ihm ihr Anliegen brieflich oder telefonisch auseinander.
»Warte noch«, sagte Mallory. »Wer ist es diesmal?«
Nach dem kurzen Summton klopfte es leise.
»Dr. Ramsharan aus 3A«, entschied Charles. »Ärztin für Psychiatrie. Henrietta würde nie zweimal auf den Summer drücken, das findet sie aufdringlich.«
Mallory folgte ihm in die Diele, nickte Henrietta Ramsharan kurz zu und ging in die Küche, um Kaffee zu machen – wie immer, wenn Charles ihr sagen konnte, wer vor der Tür stand, ehe er aufmachte. Seit Wochen hatte er sich seinen Kaffee nicht mehr selber zu kochen brauchen.
Zunächst hatte er sich gegen eine Kaffeemaschine im Büro gesträubt, für seinen Geschmack nahm die Technik dort sowieso schon viel zu viel Raum ein. Dann aber stellte sich heraus, daß Mallory Louis’ alte Kaffeemaschine aus dem Revier abgestaubt hatte, und diese sentimentale Tat, fand er, war entschieden ein Fortschritt in ihrer sozialen Entwicklung.
Wenn er in die Küche kam, vermied er es nach Möglichkeit, die neue Errungenschaft direkt anzusehen, denn irgendwie wurde er den Eindruck nicht los, daß Louis Markowitz in dieser Kaffeemaschine herumspukte und ihm blubbernd Vorwürfe machte, weil er noch nicht herausgebracht hatte, was Mallory tagsüber trieb. Ich arbeite lieber abends, hatte sie behauptet, aber das nahm er ihr nicht ab. Total vertrottelt war er denn doch noch nicht, auch wenn er sich jetzt manchmal so vorkam.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte die höfliche Henrietta Ramsharan, als er einladend auf die Couch deutete. Das schwarze Haar, in dem die grauen Strähnen an den Schläfen wie eingefärbt wirkten, war von neun bis fünf zu einem strengen Knoten geschlungen. Jetzt fiel es ihr locker bis auf die Schultern. Sie hatte schon ihre bequemen, verschossenen Freizeitjeans an, aber die rechte Freizeitstimmung hatte sich offenbar noch nicht eingestellt. Augen und Mund verrieten Unruhe. Natürlich fiel ihm dabei sofort einer seiner Mieter ein, der es schaffte, alle – offenbar sogar die abgeklärte Henrietta – in Unruhe zu versetzen.
»Herbert?«
»Ja. Aber wieso -?«
»Inzwischen kenne ich Herbert schon ganz gut.«
Henrietta aber kannte hier alle, sie war seit zehn Jahren im Haus. Überhaupt schienen die Mieter wechselseitig über ihre Vorgeschichte und ihr Tun und Treiben erstaunlich gut informiert zu sein. Charles hatte vorher in der Upper East Side gewohnt, dort in vier Jahren keine vier Worte mit seinen unmittelbaren Nachbarn gewechselt und sich das damit erklärt, daß er eben ein ungeselliger Typ war. Erst Mallory hatte ihn darauf hingewiesen, daß kühle bis frostige nachbarschaftliche Beziehungen die Regel und die engen Verflechtungen in diesem Haus eher die Ausnahme waren. Dabei gab es keinen Mieterverein, keinen Treffpunkt, in dem die Hausbewohner regelmäßig zusammenkamen. Hin und wieder machte ihm dieses Rätsel erheblich zu schaffen, aber Edith, die vermutlich einiges dazu hätte sagen können, schwieg sich aus.
»Sie glauben also, daß Herbert eine Schußwaffe hat?«
»Wie kommen Sie darauf?« fragte Henrietta.
»Sie kennen doch Martin Teller, der gegenüber von Herbert wohnt.«
Sie nickte.
»Als ich heute früh in der Halle an Martin vorbeikam, trug er eine kugelsichere Weste. So was ist nicht zu übersehen, besonders bei dieser Wärme. Mallory hat auch eine, aber die trägt sie nicht zum Einkaufen.«
»Martin hat Angst vor Herbert, das ist mir klar. Aber wußten Sie das von dem Lippenstift an Edith Candles Wand?«
»Nein. Hat man bei ihr–«
»Nein, kein Vandalismus. Haben Sie noch nie von diesen Absencen gehört, die sie manchmal hat? Von den Sätzen, die sie dann automatisch niederschreibt? Soviel ich weiß, kennen Sie ja Edith von klein auf.«
Nein, davon hatte er nichts gewußt. Er wußte nur, daß sie mit Onkel Max zusammen in einer Hellsehnummer aufgetreten war. Vage regte sich etwas Beängstigendes aus einer Kindheitserinnerung, einem belauschten Gespräch … aber bei diesen Dingen half ihm sein eidetisches Gedächtnis nicht weiter.
»Manchmal nennt man es auch Tranceschreiben«, fuhr Henrietta fort. »Edith war gerade dabei, die Schrift abzuwaschen, als Martin kam, um sich seinen Resteteller zu holen.«
»Resteteller?«
»Seit der Rezession bringt ihm seine Kunst nicht viel ein, und da wird er dreimal in der Woche
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