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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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jenes Schriftstück, das zu ihrer Partnerschaft mit Charles geführt und ihr einen Zugang zu der alten Dame in 3B eröffnet hatte.
    Nach einer knappen halben Stunde hörte sie wieder den Türsummer gehen, hörte das Öffnen und Schließen der Wohnungstür und gedämpfte Stimmen. Sie saß noch ein paar Minuten nachdenklich vor der Datei der Bewohnerin der Wohnung 3B und ließ sie dann vom Bildschirm verschwinden.
    Als sie in Charles’ Zimmer kam, saß vor seinem Schreibtisch nicht mehr Henrietta Ramsharan, sondern die verkniffene Frau vom Gramercy Square.
    »Das ist sie«, verkündete sie mit schriller Stimme und deutete mit einer Visitenkarte auf Mallory. »Jetzt erzählen Sie mir bloß nicht, daß Sie so was nicht übernehmen. Ich verlange ja gar nicht, daß sie sich die Finger schmutzig machen, es handelt sich nicht um einen Scheidungsfall oder so was. Diskretion ist ja gut und schön, aber man kann’s auch übertreiben.«
    Charles war tief in seinen Sessel gerutscht und hatte einen leicht gehetzten Blick.
    Mallory setzte sich auf einen Queen-Anne-Sessel an der Schmalseite des Schreibtischs. »Mein Partner hat eine andere Klientel mit ausgefalleneren Problemen.«
    Charles musterte sie argwöhnisch. Sie konnte in seinem Gesicht lesen wie in einem Buch.
    Zu Mrs. Pickering sagte er: »Meine Klienten sind gewöhnlich Forschungsinstitute, Hochschulen, hier und da auch ein Regierungsausschuß. Ich beschäftige mich mit ausgefallenen Talenten, ungewöhnlichen Erscheinungsformen von Intelligenz und versuche, diese Gaben gewissen Berufsgruppen oder Forschungsprojekten nutzbar zu machen. Für normale Ermittlungsarbeit ist meine Partnerin zuständig.« Er drehte seinen Sessel zu Mallory herum. »Mrs. Pickering wollte von mir wissen, was du am Gramercy Square gemacht hast.«
    Er lächelte gequält.
    »Berufsgeheimnis«, sagte Mallory zu Mrs. Pickering. Ihr Lächeln war so leer wie eine Leinwand nach dem Filmriß.
    »Jetzt kommen Sie schon wieder mit dieser verflixten Diskretion! Warum wollen Sie meinen Fall nicht übernehmen?«
    »Habe ich das gesagt?«
    »Er hat es gesagt.«
    Charles lehnte sich zurück und machte eine matte Handbewegung. »Mrs. Pickering möchte, daß wir das Lieblingsmedium ihrer Mutter als Betrügerin entlarven.«
    Diesmal war Mallorys Lächeln echt. »Warum nicht? Eine Frau mit betrügerischen Gaben … das ist doch genau dein Gebiet, Charles. Mal was Neues!«
    »Neu wohl kaum«, sagte Charles. »Es wäre nicht mein erster beruflicher Kontakt mit Medien. Nach meinen Erfahrungen verfügen die meisten über eine außerordentliche Empathie, bei manchen kann man von einer echten Gabe sprechen.«
    Mrs. Pickering sprang auf, als wollte sie geradewegs an die Decke gehen. »Nicht in diesem Fall. Diese Person ist eine geldgierige Schwindlerin.« Das Sie Trottel blieb unausgesprochen, stand aber im Raum. Erschöpft von ihrem Ausbruch sank sie wieder in ihren Sessel zurück. »Sie wollen mir doch wohl nicht im Ernst erzählen, daß diese Schwindlerin sich mit meinem toten Vater in Verbindung setzen kann?«
    »Soweit ich weiß, kommen selbst begabte Medien mit den Verschiedenen nicht so gut zurecht«, sagte Charles. »Dafür können sie mit Hilfe ihrer meist hoch entwickelten Intuition die Lebenden um so besser manipulieren. Sie registrieren alle Einzelheiten eines Menschen, werten sie aus und verarbeiten sie zu Informationen, die die Betroffenen meist sehr verblüffen, weil sie meinen, Außenstehende könnten unmöglich Zugang zu diesem Wissen haben. Manchmal grenzt das tatsächlich an Hexerei.«
    Mrs. Pickering als typische, von keinerlei esoterischen Regungen angekränkelte New Yorkerin machte ein skeptisches und etwas geringschätziges Gesicht, was Charles natürlich nicht entging.
    »Nehmen wir zum Beispiel Sie«, fuhr er fort. »Sie sind noch nicht lange geschieden, haben gute Schulen besucht, finden trotz der Ihnen vom Arzt verordneten Mittel keinen Schlaf und sind zuweilen scheinbar grundlos deprimiert.«
    Mrs. Pickering nickte unwillkürlich und sah Charles wie gebannt an. Mallory registrierte die dünne weiße Linie an dem Finger, an dem der Trauring gewesen war. Die gute Schulbildung hörte man ihr an, sie war im übrigen bei einer Anwohnerin des Gramercy Square auch zu erwarten. Wenn man genau hinsah, konnte man trotz des geschickt aufgetragenen Makeups die dunklen Augenringe erkennen, Zeichen chronischer Schlaflosigkeit, die meist mit gewohnheitsmäßiger Einnahme von Schlafmitteln einhergeht.

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