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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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nicht. Sie saß auf dem Stuhl am Schreibtisch und trank Kaffee aus einem Pappbecher. Ihr Gesicht sah aus wie halbseitig betäubt. Die Muskeln auf der linken Seite waren gelähmt, sie konnte keine Bewegung machen, die nicht zur Grimasse wurde. Die Narbe auf der Wange bezeichnete die Stelle, an der zusammen mit der Haut offenbar auch die Nerven durchtrennt worden waren.
    Von der Anwaltskanzlei Jasper & Biggs hatte Riker erfahren, daß sie ein Vermögen erben würde, aber Horace Biggs, der Testamentsvollstrecker, war auf Urlaub in Rom, und Morton Jasper hatte, verärgert über die späte Störung, nicht mit Bestimmtheit sagen können – oder wollen –, ob sie die Alleinerbin war.
    Wie eine junge, hoffnungsvolle Erbin sah Margot Siddon nicht gerade aus. Sie hatte strähniges Haar und abgetretene Kunstlederschuhe an den Füßen. Obgleich sie mehrere Schichten von Kleidung übereinander trug – ein schwarzes Kleid, eine verschossene Gobelinjacke und einen Schlabberschal –, wirkte sie überschlank. Die Beine mit den kräftigen Waden hatte sie ausgestreckt. Der Körper war zierlich, aber wahrscheinlich muskulös. Tänzer, sagte sich Riker, trainieren wahrscheinlich jeden Tag. Schwäche verriet nur das Gesicht mit den kleinen Augen, dem fliehenden Kinn.
    Coffey machte sie miteinander bekannt.
    »Wir haben uns schon mal gesehen«, sagte Riker. »Miss Siddon ist eine Bekannte von Henry Cathery, dem Enkel des ersten Opfers. Sie war in Catherys Wohnung, als Markowitz ihn verhört hat.«
    Coffey guckte sauer. Hättest du mir auch früher sagen können, übersetzte sich Riker seinen ungnädigen Gesichtsausdruck.
    Riker setzte sich hinter Margot Siddon, und zwar so, daß er Blickkontakt zu Coffey hatte. Er zog ein ledergebundenes Büchlein aus der Tasche und blätterte zurück zu den Notizen über das Gespräch in der Wohnung von Cathery.
    »Sie und Mr. Cathery sind also befreundet«, sagte Coffey.
    »Wir kennen uns«, stellte sie richtig. »Ich habe einmal in der Woche meine Cousine Samantha besucht. Die Catherys wohnten im gleichen Haus. Nachdem Henrys Großmutter gestorben war, habe ich ihn hin und wieder besucht. Ihr Tod hat ihn sehr getroffen. Er war in jeder Beziehung auf sie angewiesen und tat sich schwer ohne sie.«
    Riker nickte Coffey zu. Das stimmte. Gleich zu Beginn seiner Notizen hatte er die Worte Opfer/Kinderfrau unterstrichen. Die Großmutter hatte offenbar Henry in allen praktischen Dingen umsorgt, ohne sie wäre er ungewaschen und in schmutziger Wäsche herumgelaufen. Als Markowitz mit Cathery gesprochen hatte, war sie seit einem Monat tot. Die Sonderkommission hatte den Fall erst übernommen, als nach dem zweiten Mord klargeworden war, daß sie es höchstwahrscheinlich mit einem Serienkiller zu tun hatten. In der Wohnung, die der Junge früher mit Anne Cathery geteilt hatte, roch es, als sei kürzlich eine Putzfrau dagewesen, deren Bemühungen sich aber offenbar nicht auf Henry selbst erstreckt hatten. Trotz des blumigen Raumsprays müffelte es deutlich nach ungewaschenem Körper.
    »Ich hab ihm mit Kleinigkeiten unter die Arme gegriffen«, sagte Margot Siddon gerade zu Coffey. »Hab aufgepaßt, daß er regelmäßig ißt und so Sachen.«
    Riker nickte erneut bestätigend. Die nächsten in seinen Notizen unterstrichenen Worte waren Margot Siddon – neue Kinderfrau. Bei Markowitz’ Besuch hatte sie ihnen aufgemacht – mit einem Paar sauberer Jeans und einem Männerhemd über dem Arm. Kein Zweifel, wer in dieser Zweierbeziehung das Sagen hatte. Henry Cathery hatte keine Frage beantwortet, ohne erst Margot anzusehen. Und wenn ihm nichts Rechtes einfiel, war sie eingesprungen. Sie war nicht nur die Dominierende, sondern man hatte merkwürdigerweise den Eindruck, daß Henry auch körperlich der Schwächere war, obgleich er auf den ersten Blick groß und kräftig wirkte.
    »Ich glaube, Henry hat keine Ahnung, wie man an Lebensmittel kommt«, sagte Margot Siddon gerade. »Er hat sich wohl gewundert, daß nichts mehr im Kühlschrank war, wußte aber nicht, wie er diesen Zustand ändern sollte.«
    Lebensmittel, las Riker. Ja, die waren zehn Minuten nach Beginn der Vernehmung ins Haus geliefert worden. Henry Cathery hatte ihr Geld für den Liefer jungen gegeben, und dann war sie kurz in die Küche gegangen, um die leicht verderblichen Sachen im Kühlschrank zu verstauen. Pure Nächstenliebe, hatte Riker zunächst gedacht, obgleich die junge Frau nicht gerade einen mütterlichen Eindruck machte. Aber sie waren eben

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