Ein Ort zum sterben
möchte Louis Markowitz aus dem Totenreich zurückrufen. Er war mein Vater.«
Die Vase fiel zu Boden und zerschellte auf dem harten Marmorboden.
Mallory bog in die Einfahrt ein. Das alte Haus sah nach sechs Wochen Abwesenheit nicht so schlimm aus, wie sie befürchtet hatte. Die Fenster waren dunkel, aber das Grundstück machte einen bewohnten Eindruck. Der Rasen war gemäht, Gartenweg und Veranda gefegt, kein welkes Blatt lag herum. Das mußte Robin Duffys Werk sein. Sie sah zum Nachbarhaus.
Es wäre nicht das erste Mal, daß der Nachbar bei Markowitz den Rasen gemäht hatte. Louis war manchmal von einem einzigen Haar am Tatort so gefesselt, daß er nicht merkte, wie hoch das Gras in seinem Vorgarten stand. Hatte auch Robin Duffy sich in eine Welt des So-tun-als-ob geflüchtet? Und hatte er beim Mähen herzhaft auf Markowitz geflucht? Oder war er von dieser lieben Gewohnheit diesmal abgegangen?
Riker war bei seinem letzten Besuch offenbar durch die Hintertür gekommen. Das amtliche Siegel an der Vordertür war unversehrt. Sie zog es ab und steckte ihren alten Schlüssel ins Schloß.
Im Haus selbst verlor sich dann die Illusion. Es roch nach Staub und Muff und bedrückender Leere. Ein Griff zum Wandschalter, und die Hängelampe verbreitete ein mildes, warmes Licht.
Vor der kleinen Couch, auf der Helen abends gesessen und genäht hatte, blieb sie stehen. Der Nähkorb stand am gewohnten Platz. Mit den Erinnerungen an Helen konnte sie inzwischen umgehen. Um den Sessel aber, in dem Markowitz nach Feierabend – nur nicht am Dienstag und Donnerstag – seine Zeitung gelesen hatte, machte sie zunächst einen weiten Bogen.
Wie mochte ihm zumute gewesen sein, nachdem er hier allein zurückgeblieben war? Sie selbst würde nie mehr in diesem Haus leben können. Schon nach Helens Tod war es ihr schwer genug gefallen.
Unwiderstehlich zog es sie zur Küche, in der so viele Erinnerungen an Helen wohnten. Keine andere Frau in ihrem Leben hatte sich je darum gekümmert, ob ihre Haare gekämmt und ihre Fingernägel sauber waren, ob sie ihr Milchgeld und ihre Schulbrote eingesteckt hatte. War die Küche nicht früher größer gewesen? Vielleicht sah sie diesen Raum immer noch mit den Augen der kleinen Diebin, die eines schönen Abend: von Markowitz geschnappt worden war.
»Ja, was treibst du denn da, Mädel?« hatte er gefragt und durch das Fenster des Jaguars gesehen.
»Mach die Fliege, Alter, sonst stech ich dich ab«, hatte sie gesagt.
Und dann hatte er sie kurzerhand in seinen Wagen gepackt und mit nach Hause genommen. Weil er Geburtstag feiern und sich nicht auf dem Jugendgericht durch Berge von Papier wühlen wollte, hatte er zu ihr gesagt. Der Kuchen für Helen stand auf der Rückbank und duftete würzig-zitronig, und Markowitz selbst roch nach fruchtigem Pfeifentabak.
Helen war ausgerastet, als sie das Kind in Handschellen gesehen hatte, der arme Markowitz konnte die Dinger gar nicht schnell genug aufschließen. Und dann hatten sich liebevoll-weiche Arme, die nach Seifenflocken, Abwaschmittel und Scheuerpulver rochen, um die kleine Kathy gelegt. Aus der Küche duftete es nach Schmorbraten und Buttergemüse, und ein Hauch von Talkumpuder wehte Kathy an, als Helen sich vorbeugte, um ihr einen Gutenachtkuß zu geben.
Helen …
Das Haus roch nicht mehr nach ihr. Überall lag Staub. Das hätte Helen sehr traurig gemacht.
Mallory ging nach oben. Auf dem Weg zu dem kleinen Gästezimmer, in dem Markowitz gearbeitet hatte, kam sie auch an ihrem früheren Zimmer vorbei. Er hatte alles unverändert gelassen, vielleicht hatte er insgeheim doch gehofft, sie würde wieder herkommen. Am Türrahmen war noch die letzte Kerbe aus ihren Wachstumsjahren zu sehen. Und erstaunlich weit darunter die erste. Erstaunlich für eine Zehnjährige. Sie war unbändig stolz darauf gewesen, daß sie es geschafft hatte, sich zwei Jahre älter zu schwindeln.
Markowitz’ Arbeitszimmer sah aus wie nach einem wüsten Einbruch. So hatte es auch zu seinen Lebzeiten ausgesehen, und Riker hatte bei seiner Suchaktion alles an seinem Platz gelassen. Die Rechnungen auf dem Fußboden neben dem Schreibtisch, die Uneingeweihte für einen Wust fliegender Blätter halten mochten, waren sorgfältig nach Fälligkeitsdatum geordnet. Auf dem Stoß von Briefen lag ganz obenauf seine Korrespondenz mit dem Oldtimer-Radioklub, erst dann kamen die für ihn weit weniger wichtigen Mitteilungen vom Finanzamt. Mallory griff nach dem Papierkorb, den er als Ablage für
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