Ein Ort zum sterben
Rücksichtslose Ehrlichkeit überzeugte ihn immer.
»Sie haben nie mit Henry Cathery gesprochen, Mr. Gaynor?«
»Jonathan.« Er lehnte sich zurück und stieß mit einem Ellbogen an eine Porzellanfigur, die am Rand des Beistelltischs zu seiner Linken stand. »Gelegentlich sehe ich ihn im Park und habe ihm zuerst wohl auch zugenickt, aber da er nie reagierte, gehört er jetzt für mich gewissermaßen zum lebenden Inventar, das man nicht weiter zur Kenntnis nimmt.«
Er stand auf, ließ sich von seinen langen Beinen zu dem großen Panoramafenster tragen und winkte Mallory. »Da ist er.« Er deutete auf die Bank hinter den dunklen Gitterstäben, die direkt gegenüber dem Fenster stand. Henry Cathery hatte sich über sein Schachbrett gebeugt. Als Mallory zu ihm hinsah, hob er den Kopf. Es sah aus, als blicke er sie direkt an. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.
»Ein bißchen spät für ihn«, stellte Gaynor fest. »Meist sitzt er dort nur tagsüber. Er soll früher ein großer Schachspieler gewesen sein, ein richtiges Wunderkind, inzwischen ist er offenbar ausgebrannt. Aber das alles wissen Sie bestimmt längst.«
Er lotste sie zur Couch. »Sie heißen Kathleen mit Vornamen?«
Sie nickte. »Kannten Sie Pearl Whitman?«
»Nur vom Sehen. Darf ich Sie Kathy nennen?«
»Nein.«
Er wurde rot. Gut so! »Pearl Whitman ging regelmäßig zu spiritistischen Sitzungen. Sie hatte möglicherweise Verbindung zu einem Medium, das jede Woche –«
»Redwing?«
»Sie kennen die Frau?«
»Zu übersehen ist sie ja nicht mit ihren zwei Metern. Und der Umfang …« Seine Hände beschrieben einen großen Kreis und brachten eine schlanke Porzellanfigur auf einem Sims hinter der Couch ins Wanken. »Ich habe sie einmal hier in der Halle getroffen, der Pförtner nannte mir ihren Namen. Bei meinem nächsten Besuch habe ich dann meine Tante nach ihr gefragt. Das ist jetzt schon eine ganze Weile her, aber ich erinnere mich sehr genau an das Gespräch, vor allem deshalb, weil es mit einem lautstarken Streit endete.«
»Ist Ihre Tante auch zu Redwings Séancen gegangen?«
»Das hat sie mir nicht verraten – was mich nach unserer Auseinandersetzung auch nicht wundert. Sie glauben, daß Redwing etwas mit der Sache zu tun hat?«
»Zunächst einmal interessiert mich alles, was sich hier tut. Redwing kommt seit über einem Jahr jede Woche hierher. Sie haben sich mit Ihrer Tante gestritten, sagen Sie. Was hatten Sie gegen das Medium?«
Seine Hand fuchtelte unvermittelt in der Luft herum, und ein Sofakissen segelte auf den Marmorboden. »Das Ganze ist doch ausgemachter Schwindel, nicht? Es dürfte nicht sehr viel dazugehören, einen Haufen leichtgläubiger alter Damen hinters Licht zu führen. Betagte Menschen auszunutzen finde ich ekelerregend. Ich verabscheue jeden, der sich zu so etwas hergibt.«
»Hätten Sie Lust, sich Redwing mal näher anzusehen? Sie gibt morgen Nachmittag eine Séance. Allerdings brauchen Sie eine Einführung. Mrs. Penworth ist die Gastgeberin. Ich habe die Einladung über ihre Tochter bekommen, aber wahrscheinlich ist es praktischer, wenn Sie sich direkt mit Mrs. Penworth in Verbindung setzen. Sie können ihr ja sagen, daß Sie gern mit Ihrer Tante im Jenseits sprechen würden.«
»Ist das Ihr Ernst?« Sein Ellbogen zuckte nach hinten, ein Bein stieß an den Couchtisch. Eine zarte Kristallvase kam erst knapp am Tischrand zum Stehen.
»Mein voller Ernst«, sagte Mallory. »Wenn es kein allzugroßes Opfer für Sie ist … Wir versprechen uns davon einiges für unsere Ermittlungen.«
»Aber warum gerade ich?«
»Ich möchte wissen, ob Redwing Ihnen etwas über Ihre Tante sagen kann, was nicht allgemein bekannt ist.«
»Sie glauben also, daß sie Verbindung zu den Opfern hatte.«
Ein Bein legte sich über das andere, das falsch informierte Knie stieß die Kristallvase an, die auf dem vorgestreckten Fuß landete. Mallory konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie auf den Boden fiel, und stellte sie an ihren Platz zurück.
»Nein, das hätten wir inzwischen vermutlich festgestellt. Es geht mir einfach darum, möglichst viele Informationen zu sammeln. Vier oder fünf Frauen im Alter Ihrer Tante werden da sein, vielleicht war sie mit der einen oder anderen näher bekannt. Ich muß wissen, ob der Tod Ihrer Tante etwas mit dem Mord an Pearl Whitman zu tun hatte.«
»Der gemeinsame Nenner also … Sehr gut. Sie werden sich demnach als trauernde Angehörige von Miss Whitman ausgeben?«
»Nein. Ich
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