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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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gab es doch gar nicht. »Wenn Sie sich nicht ausweisen können, kann ich Ihnen unmöglich etwas auszahlen, das müssen Sie doch einsehen.«
    Ja, offenbar hatte sie es eingesehen, denn jetzt stand sie schwerfällig auf. Das lange Kleid schlotterte, aus den Ärmeln der weiten Brokatjacke sahen erschreckend magere Arme hervor, das Gesicht wirkte regelrecht ausgehungert.
    Langsam ging sie auf die elegant geschwungene Treppe zu, die in die Schalterhalle hinunterführte. Er hatte überlegt, ob er ihr ein bißchen Kleingeld aus der eigenen Tasche zustecken sollte, hatte es dann aber doch lieber bleiben lassen. Womöglich hätte sie ihm noch eine Szene gemacht.
    Er sah Margot Siddon nach, die langsam die breiten Stufen hinunterging, und mußte plötzlich daran denken, daß er in den Sechzigern Leadgitarre in einer Rockband gespielt hatte. Das Hippiemädchen, das mit der Band gesungen und gehungert hatte, war seit fünfundzwanzig Jahren seine Frau. Und wer war dieser unmusikalische Banause, der gerade einer halb verhungerten Frau die Tür gewiesen hatte?
    Er spielte mit einer Büroklammer, während Margot Siddon durch die überdimensionale Schalterhalle dem Ausgang zuging. Als sie ausrutschte und auf den harten Marmorboden stürzte, ließ er die Büroklammer fallen und sah rasch weg.
    Riker hielt wohlweislich Distanz zu der Glaswand des Büros und suchte nach einem Fluchtweg für den Fall, daß Commissioner Beale zufällig in seine Richtung sah und ihn hereinrief, um ihn zusammen mit Coffey fertigzumachen. Der kleine blasse Commissioner fuchtelte Coffey gerade mit einer Zeitung vor der Nase herum, deren Schlagzeile Riker auswendig kannte: Unsichtbarer führt New Yorker Polizei vor.
    Als der Fall gerade acht Wochen alt und Markowitz erst achtundvierzig Stunden tot war, hatte Chief Blakely zu Beale gesagt, die Lösung sei in greifbarer Nähe. Sechs Wochen später hockte Blakely mit seinem wabbeligen Hintern auf Coffeys Schreibtisch, ließ seine Zigarre qualmen und Coffey im Regen stehen.
    Jawohl, buchstäblich stehen. Riker hätte ihm sagen können, daß Blakely die strategisch beste Position hatte, denn zu ihm brauchte der Commissioner nicht aufzusehen. Coffey war einfach zu groß, er paßte nicht in Beales System, zumal ihm keiner das bei Vorgesetzten so beliebte Schleimergrinsen beigebracht hatte. Er stand da wie ein Fels, und in diesem Moment war er Riker fast sympathisch.
    Zwei Kollegen in Uniform, die sich die Schau auch nicht entgehen lassen wollten, gesellten sich zu Riker an den Wasserkühler.
    Der fand, daß es Zeit war, Flagge zu zeigen und Coffey den Rücken zu stärken. Er holte seine Brieftasche heraus. »Fünf Dollar, daß Coffey immer noch steht, wenn der Commissioner Leine zieht.«
     
    Margot Siddon angelte einen Pappbecher aus der Mülltonne und hielt ihn dem Mann mit dem zerrissenen Sweatshirt hin, der einen Dime und einen Quarter hineinwarf. Zwanzig Minuten später schob sie das Geld über das Schalterbrett und ließ sich eine U-Bahn-Münze geben. Im Zug schlief sie ein, verpaßte ihre Station und mußte fünfzehn Blocks zu Fuß gehen. Vor der Haustür blieb sie mit einem Ruck stehen. Ihr war ganz flau geworden. Ihre Schlüssel waren weg. Offenbar waren sie ihr bei dem Sturz in der Bank aus der Tasche gefallen. Wütend wummerte sie an die Tür der leeren Wohnung, warf sich heulend gegen das Holz, sackte im Hausflur zusammen. Irgendwo in dem Chaos hinter der Tür lag – unerreichbar für sie – ihre Geburtsurkunde. Mit dem Rest von Kraft, der ihr noch geblieben war, trat sie gegen die Türfüllung.
    Moment … der Briefkasten.
    Auf den Briefen an sie standen ja ihr Name und ihre Adresse. Aber auch der Briefkastenschlüssel hing an dem verlorengegangenen Schlüsselring. Sie holte das Springmesser aus der Tasche, brach die Tür ihres Briefkastens auf und holte eine Drucksache und die Stromrechnung heraus.
     
    Mallory kniff die Augen zusammen. In der grellen Sonne, die durch die hohen Fenster fiel, sah man sämtliche Zigarettenbrandflecken auf der roten Plüschcouch. Die beiden Frauen, die dort saßen, jede an einem Ende, kannten sich offenbar nicht. Sie waren nicht mehr die Jüngsten, aber Rouge und Lippenstift leuchteten wie Feuermelder. Am Empfang stand ein alter Mann, der aus einem Geldscheinclip mit dem Logo einer Schnellreinigung Dollarscheine auf den Tresen zählte. Die Dame am Empfang nickte bei jeder Dollarnote, die er vor sie hinlegte, so nachdrücklich, daß ihr Vierfachkinn wabbelte.
    Der flotte

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