Ein Ort zum sterben
hellwach ist. Mehr als hellwach. Aufgedreht. Angetörnt. In diesem Zustand konnte er sich in ihr Hirn einklinken, konnte für ganze Tage, ganze Nächte die Erinnerung daraus vertreiben, ihr zu traumlosem Schlaf verhelfen. Er war der einzige, der bereit war, mit ihr über den Mann mit dem Messer zu reden.
Von Samantha hatte sie in all den Jahren, in denen sie ihr schöngetan, ihr Honig um den Mund geschmiert hatte, kein einziges persönliches Wort gehört.
Als Kind hatte die Mutter sie oft zu Samantha Siddon mitgenommen. Später – die Mutter hatte wieder geheiratet und war aus ihrem Leben verschwunden – war Margot allein hingegangen, und Samantha hatte bei jedem Besuch fünfzig Dollar springen lassen – eine nicht gerade üppige Zuwendung für viele Stunden lähmender Langeweile.
Früher, als Samantha jung und schön war – so hatte die Mutter eine ihrer Geschichten angefangen, und die kleine Margot hatte es nicht fassen können, daß die klapprige Alte mit dem Buckel und den zittrigen Händen wirklich einmal eine schöne Frau gewesen sein sollte. Damals hatte Samantha alles süß gefunden. Margot war süß, und die Schleife in ihrem Haar war süß, und für die einsame alte Frau war das eine so wichtig oder so unwichtig wie das andere. Im Lauf der Jahre war Samanthas Stimme schrill geworden, zum Schluß klang alles, was sie sagte, wie ein Kreischen der Angst.
Nachdem der Mann mit dem Messer bei Margot gewesen war, hatte Samantha sie einmal im Krankenhaus besucht. Nur dieses eine Mal. Margot solle ihr Gesicht abdecken, die Narbe verbergen, hatte sie gebeten, sie könne den Anblick nicht ertragen. Danach waren die angsterfüllten Nächte das einzige gewesen, was sie verband. Die eine wachte auf und schrie vor Angst, weil sie einsam war. Zwanzig Blocks weiter südlich erwachte die andere davon, daß ein Messer vor ihren Augen tanzte, ihre Wange durchbohrte, den Nerv durchtrennte, mit dem sie gelächelt hatte.
Margot Siddon starrte auf die Wand, bis sich die erste Spur von Helligkeit darauf abzeichnete, dann griff sie ziellos in einen der Kleiderhaufen vor dem Bett und zog sich an. Daß sie die Weste schief knöpfte, merkte sie nicht. Es war nichts zu essen im Haus. Sobald sie ihren Vorschuß hatte, würde sie einkaufen gehen. Sie würde sich alles in bar geben lassen, in kleinen Scheinen. Die ganze Welt würde sie sich kaufen. Und Fleisch, rotes Fleisch. Und eine Biskuitrolle.
Wieder einmal bedauerte der Banker lebhaft, daß er kein richtiges Büro mit einer Tür hatte, die man hinter sich zumachen konnte. In den Räumlichkeiten von gut und gern doppelter Ballsaalgröße, in denen es keine Trennwände gab, waren vertrauliche Gespräche völlig unmöglich. Gerade heute empfand er die ausladende Galerie, auf der sein Schreibtisch stand, als besonders öffentlich. Neugierige Blicke streiften die absonderlich gekleidete junge Frau, die vor ihm saß. Sie grinste verzerrt, und auf einer „Wange zeichnete sich eine blasse halbmondförmige Narbe ab. Sie wirkte schmuddelig, und ein paarmal war sie drauf und dran, einzuschlafen.
»Um Ihnen Geld auszuzahlen, brauche ich eine Anweisung des Testamentsvollstreckers, Miss Siddon, daran führt kein Weg vorbei«, sagte der Bankbeamte. »Im übrigen konnten Sie mir keine einzige Frage nach Ihrer Cousine zufriedenstellend beantworten. Wenn Sie mir nicht einmal sagen können, wie ihr zweiter Vorname lautet –«
»Wir haben nie viel miteinander geredet.«
»Am besten wenden Sie sich an ihre Anwälte.«
»Die haben gesagt, daß sie sich wieder melden, aber kein Mensch ruft mich an.«
»Dann bitten Sie Ihren Anwalt, sich darum zu kümmern.«
»Sie wissen ganz genau, daß ich keinen Anwalt habe. Ich brauche Geld, und zwar sofort. Was nützt es mir, daß ich irgendwann eine Million kriege, wenn ich inzwischen verhungert bin?«
Das konnte nur ein plumper Schwindel sein. Es war nicht das erste Mal, daß jemand so was bei ihm probierte. Diese merkwürdige Person verfolgte offenbar systematisch die Todesanzeigen in der Zeitung. Andererseits wäre es peinlich, falls sich herausstellen sollte, daß sie tatsächlich die Erbin des Siddon-Vermögens war … Vorsicht war also angesagt.
»Können Sie sich ausweisen? Wenn Sie mir Ihren Führerschein zeigen …«
»Ich kann nicht Auto fahren.«
»Wie weisen Sie sich denn aus, wenn Sie Schecks ausschreiben?«
»Überhaupt nicht. Ich habe gar kein Konto.«
Das war nun bestimmt gelogen. Ein Mensch ohne Bankkonto – so etwas
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