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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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einen Augenblick auf dem Gehsteig liegen, wo im Schutz der Dunkelheit noch immer die Ratten tanzten. Ein besonders wagemutiges Tier rannte über ihren ausgestreckten Handrücken. Sie zog rasch die Hand zurück und musterte sie, als habe die Ratte Spuren hinterlassen.
    Langsam, mit gesenktem Kopf, ging der Mann zur U-Bahn. Erst als sie aufrecht stand, nahmen die Ratten Notiz von ihr und waren blitzschnell vom Gehsteig verschwunden. Zügiger, aber nicht ganz so rattenflink folgte Margot ihrem Opfer.

 

     
    In raschem, ruckendem Rhythmus bewegten sie sich über die flachen Gehsteigplatten, heildunkel gemustert, manche auch blau und grau getüpfelt, einheitlich nur in ihrem taubentypischen Gang. Und eine von ihnen war verrückt.
    Rote Füße, rot umrandete blanke Augen mit irrem Blick, das Gefieder tiefschwarz oder je nach Lichteinfall grünlich schimmernd. Am Kopf lagen die Federn nicht rund und glatt, sondern waren – borstig-verdreckt, vor langer Zeit einmal furchtsam gesträubt und durch Schmutz und Regen verklebt – zu einem Signal permanenter Angst erstarrt. Jetzt aber hatte der schwarze Täuberich längst jede Angst verloren – was auch bei Tauben das sicherste Zeichen für eine Geistesstörung ist. Menschen fürchtete er schon mal gar nicht. Eine Passantin watete durch den Taubenstrom, der sich gehorsam teilte. Nur der verrückte Täuberich wich und wankte nicht und bezog dafür einen Tritt, der die Passantin mehr erschreckte als ihn.
    Die Frau stieß einen spitzen Schrei aus und stakste steifbeinig die Seventh Avenue hinunter. Der Täuberich folgte ihr hinkend, bis er vergessen hatte, was er eigentlich wollte.
    Margot Siddon wußte nicht, wie lange sie jetzt schon ohne Schlaf war. Unter dem allmählich heller werdenden Himmel folgte sie dem Mann über den St. Lukes Place in Richtung Seventh Avenue. Die Straßenlaternen brannten noch und tauchten Margots Gesicht in weißes Licht, als sie sich durch das Drehkreuz in die U-Bahn schob. Um diese Zeit war der Bahnsteig menschenleer. Vorsichtshalber schritt sie ihn einmal ab und sah hinter jede einzelne der dicken Säulen.
    Nach allen Gesetzen dieser Welt und der Stadt New York hätte in diesem Augenblick, da sie ihn am wenigsten gebrauchen konnte, ein Cop auftauchen müssen, aber in dem allgemeinen Niedergang von Recht und Ordnung war offenbar auch diese alte Regel außer Kraft gesetzt.
    Sie ging auf ihn zu. Nur einmal noch wollte sie seine Augen sehen.
    Er wandte sich um, als sie ihn am Ärmel zupfte, schüttelte die schmutzige Hand ab und hörte das Klicken, den letzten Laut, den er im Leben hören sollte. Als guter New Yorker wußte er, was dieses Klicken bedeutete, und noch blieb ihm der Bruchteil einer Sekunde, um Angst zu haben, dann fuhr ihm die Zwanzigzentimeterklinge zwischen die Rippen. Er stürzte und starb, ohne daß er nach dem Warum hatte fragen können.
     
    In der grauen Geisterstunde vor Sonnenaufgang wachte Edith Candle auf, setzte die nackten Füße auf den Teppich, hängte sich einen wollenen Hausmantel um und begann das allmorgendliche rituelle Hin und Her zwischen Bett und Badezimmer. Sie ließ Badewasser ein, ohne einen Blick in die Küche zu werfen. An der Wand über der Spüle stand in kindlicher Krakelschrift: DER PALADIN WIRD STERBEN.
     
    Eine leise Unruhe regte sich in ihm, als er sich zum ersten Mal nach über dreißig Jahren dem Park näherte. Für ihn hatte dieser Ort noch immer etwas Bedrohliches. Was man einmal aus der Augenhöhe eines Kindes gesehen hat, kommt einem bekanntlich in der Erinnerung stets größer vor. Abgesehen aber von der Verschiebung in den Proportionen war der Gramercy Park unverändert. Und die Party zur Feier seines sechsten Geburtstages stand Charles Butler so klar vor Augen, daß er schmerzlich das Gesicht verzog.
    Edith hatte alle Kinder vom Square eingeladen, obwohl die bei früheren Besuchen nie etwas von ihm hatten wissen wollen. Auch an diesem Nachmittag fand er keine neuen Freunde, lieferte aber den anderen mehrmals willkommenen Anlaß zu wieherndem Gelächter, so daß er am liebsten in den Erdboden versunken wäre.
    Während dann Onkel Max seine Künste zeigte, Gegenstände in Flammen aufgehen ließ und Vögel gen Himmel schickte, war der sechsjährige Charles so tief wie möglich in seinen Sitz gerutscht, um nicht gesehen zu werden. Als Höhepunkt und großes Finale der Zaubervorstellung hatte Max dem Neffen dessen größten Wunsch erfüllt, hatte ihn erst zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und

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