Ein Ort zum sterben
dann unsichtbar gemacht – ein Kunststück, das Charles selbst bisher bei Kindern dank seiner großen Nase nie gelungen war.
Nach Ende der Vorstellung hatten die mit kleineren Nasen und bescheideneren Geistesgaben ausgestatteten Geburtstagsgäste den zu seinem Leidwesen wieder sichtbar gewordenen Charles umringt und verlangt, er solle ihnen den Trick verraten. Der aber hatte sein Ehrenwort gegeben, nicht über Max’ Berufsgeheimnis zu sprechen. Während Edith und Max ihre Zaubersachen zusammenpackten und Kisten und Tüten über die Straße zurück ins Haus schafften, schloß sich um den Jungen mit der großen Nase der Kreis haßerfüllter Kindergesichter.
Der erste Hieb in den Magen tat eigentlich vor allem deshalb weh, weil es schmerzte, ohne ersichtlichen Grund geschlagen zu werden. Als er schützend die Hand auf den Leib legte, trat ihn einer von hinten, eine flache Hand landete in seinem Gesicht, er wehrte sie mit erhobenen Armen ab, da ballte sie sich zur Faust und traf ihn in die Seite.
Und jetzt wußte er, was er zu tun hatte.
Er ließ die Hände sinken und lächelte sein breitestes, verrücktestes Lächeln. Verunsichert traten sie einen halben Schritt zurück. In ihrem primitiven Verständnis von Angst und Wut war dieses Lächeln gegen die Regel. Eine Faust traf Charles am Hinterkopf, aber es war kein Schwung dahinter, der Zorn war verpufft. Keiner schlug ihn mehr, bis Edith in den Kreis trat, ihm eine Hand auf die Schulter legte und ihn im Haus verschwinden ließ.
Danach war er bei seinen Besuchen am Gramercy Square immer draußen vor dem Parkgitter geblieben.
Er schloß mit Mallorys Schlüssel auf und wählte eine Bank, die in einer breiten Oktobersonnenbahn stand.
Der junge Mann gleich dort am Gitter, das mußte Henry Cathery sein. Kathleens Beschreibung war genauer als nötig gewesen, Charles hätte ihn allein schon an seinem kleinen Reiseschach erkannt. Daß der junge Mann aussah wie ein Besucher von einem anderen Stern, hätte Kathleen ihm nicht zu sagen brauchen. Charles fühlte sich diesem Außerirdischen brüderlich verbunden und konnte sehr gut nachempfinden, wie ihm unter den Erdlingen zumute war.
Während Cathery sich ebenfalls in die Sonne setzte, holte Charles sein Schachspiel heraus. Es war eine schöne alte Arbeit, die Felder waren aus Mahagoni und Zedernholz, die Steckfiguren aus Elfenbein und Jade, eine filigranhaft feine Schnitzarbeit, das reinste Augenpulver für den unbekannten Künstler.
Über mehrere Parkbänke hinweg sah Charles, daß Cathery seine Züge auf einem Magnetbrett machte. Er war so vertieft in sein Spiel, daß ihn der indiskrete Blick des Fremden überhaupt nicht störte, und so weltenweit von Charles entfernt, daß der von dem Gedanken, wie zufällig eine Begegnung herbeizuführen, gleich wieder abrückte.
Charles hatte als Kind nicht gelernt, unbefangen auf fremde Menschen zuzugehen, spontan ein Gespräch zu beginnen. Dieser für andere so selbstverständliche Schritt war in seiner Sozialisation schlicht und einfach ausgefallen. Gerade deshalb fühlte er sich diesem jungen Mann von einem anderen Stern auf seltsame Weise nahe. Er klappte sein Schachbrett zusammen und drang entschlossen in Henry Catherys für Eingeweihte deutlich abgegrenztes Parkbankterritorium ein.
»Wie ich sehe, spielen Sie lieber mit Magnetsteinen als mit Steckfiguren.«
Cathery nickte, ohne aufzusehen, ja, er hätte womöglich nicht einmal dann den Blick gehoben, wenn Charles aus einem brennenden Busch zu ihm gesprochen hätte. Charles klappte sein Brett auf und hielt es Henry Cathery vor die Nase. Der lächelte verzückt wie ein kleiner Junge, der eine besondere Leckerei zum Greifen nah vor sich sieht.
Damit war der erste Schritt getan. »So eins habe ich schon mal gesehen«, sagte Cathery, Brett und Figuren mit gierigem Blick verschlingend. »Ein seltenes Sammlerstück, nicht?«
»Ja.«
»Wo bekommt man so was?«
»Gar nicht. Es gibt nur drei davon, zwei stehen in Museen.«
»Würden Sie es mir verkaufen? Ich zahle jeden Preis.«
»Nein, danke. Aber wie wär’s mit einer Partie?«
Cathery schob sein Brett beiseite und blickte hoch, hilflos wie jemand, der tanzen soll und die Schritte nicht kennt. Charles begriff aus eigener bitterer Erfahrung, daß dieses junge Schachgenie im gesellschaftlichen Umgang so unbeholfen war wie ein kleines Kind. Lächelnd setzte er sich auf die Bank, stellte sein schönes altes Schachbrett neben sich und hielt Cathery fragend die weißen Figuren
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