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Ein paar Tage Licht

Ein paar Tage Licht

Titel: Ein paar Tage Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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traumatisiert, im »schwarzen Jahrzehnt« gefangen, hat für immer die Mündung eines Gewehrs vor Augen, ne demande plus jamais .
    Sie heißt Amel Samraoui, Harry, und weißt du, was Amel bedeutet?
    Hoffnung.

10
    PESSIN
    Zum ersten Mal seit dem Tod Paulines lüftete Benmedi das Zimmerchen im Obergeschoss, das ihres gewesen war und in dem sie hin und wieder Gäste beherbergt hatten, als noch Gäste gekommen waren. Mit zitternden Händen wischte er die dunklen Holzdielen, entstaubte den Sekretär vor dem Fenster, die Metall- und Bronzeskulpturen, die sie gesammelt hatte, rätselhafte, abstrakte Werke einer havelländischen Künstlerin, die sich ein paar Jahre nach dem Mauerfall erhängt hatte. Aus den Deckenwinkeln holte er Spinnennetze, ungeschickt jagte er ein paar Fliegen aus dem Fenster. Den türkischen Läufer warf er wegen Mottenbefalls in den Garten hinunter, um ihn am Abend zu verbrennen.
    Die ganze Zeit über sah er einen dünnen, stillen Jungen vor sich, der an einem Strand im Wasser planschte, gebannt auf dem Fußboden vor dem Fernseher saß, durch die Straßen Bologhines rannte, einen Fußball unter dem Arm, ihn, den Großvater, mit sich ziehend, ins Stadion, wenn die aus Bologhine gegen die aus Bab el Oued antraten. Mit zwei Dutzend Kindern in gefälschten Trikots kletterte er über eine Mauer, feuerte sie flüsternd an, während sie genauso leise spielten aus Angst vor den bewaffneten Islamisten, die Algerien heimgesucht hatten wie die Motten den Läufer.
    Der Einzige, der mir von meiner Familie, den unglücklichen Benmedis, geblieben ist.
    Er hielt inne, wischte sich Tränen aus den Augen.
    Plötzlich sah er einen anderen Mann an der Seite des Jungen. Ein bisschen dick war er geworden, der Mouloud, hatte sich einen buschigen Schnurrbart wachsen lassen, verbrachte zu viel Zeit in der Moschee, mit den Islamgelehrten. Er war dem Jungen so ähnlich, auch ihm, dem Vater, obwohl er ganz anders geworden war, ruhig und phlegmatisch. Statt für die Freiheit zu kämpfen, hockte er da und betete, statt wütend zu protestieren, schrieb er poetisch-religiöse Texte, die Intellektuelle begreifen mochten, niemand sonst.
    Mouloud, ich verstehe das nicht, bitte erklär es mir.
    Gern, es ist ganz einfach …
    Mouloud, ich hab das immer noch nicht verstanden, der Koran und die Liebe und der Frieden, es ist schon sehr kompliziert, was du da geschrieben hast.
    Ganz ruhig, Vater, komm, setz dich, wir gehen es Satz für Satz durch.
    Lieber Wort für Wort, Mouloud, ich bin bloß Maschinist, vergiss das nicht.
    Nur einmal hatte Mouloud die Ruhe verloren.
    Eines Abends war er in das Zimmer gelaufen, in dem Pauline und er wohnten, und hatte voller Angst geflüstert: Sie töten auch die Ausländer, ich flehe dich an, verlasst Algerien! Der Junge hatte zwischen ihnen gelegen und war halb auf ihn gekrochen, als wollte er ihn festhalten und zugleich beschützen.
    Benmedi eilte die Treppe hinunter, floh die Erinnerung. Er wusste schon, weshalb er all das verdrängt hatte, sein unseliges erstes, sein algerisches Leben.
    Das Klingeln des Telefons half.
    Im schmalen Flur nahm er den Hörer ab. »Ja, bitte?«
    Keine Antwort, nur ein leichtes Rauschen, statische Geräusche, doch er glaubte zu spüren, dass da jemand war. Schauer jagten ihm über die Arme.
    »Djamel?«, flüsterte er.
    Das Besetztzeichen erklang.
    Wieder kam die verfluchte Erinnerung, ein Anruf im September 1995, ein Jahr nach ihrer Rückkehr aus Algier. Pauline war im Garten gewesen, er selbst hatte genau hier gestanden, den Hörer am Ohr, in der Ferne Djamels helle Stimme: Sie haben den Papa geholt und ins Serkadji gebracht, aber das war schon vor neun Tagen, und jetzt sagen sie, sie wissen nicht, wo er ist, sie haben ihn vor einer Woche nach Hause geschickt, ist er vielleicht bei dir in Deutschland?
    Nein, Djamel … Was sagst du da? Er ist …
    Kannst du herkommen? Wir gehen zusammen ins Serkadji, er muss noch dort sein, sie haben ihn bestimmt bloß vergessen.
    Er hatte ein Visum beantragt, es war abgelehnt worden. Immer wieder hatte er es versucht, drei Jahre lang, hatte telefoniert, war nach Bonn gefahren; vergeblich.
    Seine Verzweiflung hatte Pauline krank gemacht.
    Und so hatte er eines Tages beschlossen, mit seinem algerischen Leben abzuschließen, um das deutsche nicht zu verlieren.
    Aber es war zu spät gewesen.

11
    ALGIER
    Ein seltsam unpassender Name, dachte Eley – »Hoffnung«. Amel empfand keine Hoffnung. Sehnsucht, ja, Hoffnung, nein.
    Sie hatten um

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