Ein Paradies der Sinne
in Seattle. Ich werde sechs Monate des Jahres hier verbringen.“
Amy hatte ein eigenartiges Gefühl im Bauch. „Ach so.“ Ein weiterer Kommentar wurde ihr erspart, denn Ashley und Oliver kamen angelaufen, um Harry zu holen. Jeder auf einer Seite nahmen sie ihn an der Hand und zogen mit ihm davon.
Fünf Minuten später war Harry zurück – mit zwei vollen Kaffeetassen. Die Kinder hatten Berliner bekommen, doch statt diese zu essen, verfütterten sie sie Stück für Stück an die Möwen.
„Das sind großartige Kinder“, sagte er. Sein trauriger Ton rührte Amy.
„Hast du Kinder?“, erkundigte sie sich.
Harry seufzte und blickte zur kleiner werdenden Skyline von Seattle hinüber. „Ich hatte eine Stieftochter. Sie starb mit ihrer Mutter bei einem Flugzeugabsturz.“
Amy krümmte sich innerlich. Ihren Mann zu verlieren war schlimm genug gewesen, aber auf eines oder gar beide ihrer Kinder zu verzichten, hätte sie sicher nie verkraftet. „Das tut mir so leid“, sagte sie.
Harrys Lächeln war atemberaubend. „Das liegt sehr lange zurück, Liebling. Du solltest dir keine Sorgen darüber machen.“
Amy ließ sich nicht so leicht vom Thema abbringen. „Hast du sonst noch Familie?“
„Meine Mutter“, gab Harry grinsend Auskunft. „Sie ist ausgesprochen herrschsüchtig, aber ich liebe sie.“
Amy lachte.
„Was ist mit deiner Mutter?“, fragte Harry. „Ist sie so hübsch wie du und Ashley?“
Bei dieser Frage umklammerte Amy die Reling unwillkürlich fester. Langsam erstarb ihr Lächeln. „Ich war vier, als sie starb. Ich kann mich nicht an sie erinnern.“
Harry legte den Arm um ihre Schultern. Es war eine ganz natürliche Geste, die ihr Trost und ein Gefühl der Geborgenheit vermittelte. „Du hast mit vielen Verlusten fertig wenden müssen“, sagte er mit sanfter Stimme. „Was ist mit deinem Vater?“
Amy reckte die Schultern und versuchte zu lächeln. „Er ist Arzt und immer sehr beschäftigt. Ich bekomme ihn nur selten zu sehen.“
„Höre ich da etwa ein wenig Einsamkeit mitschwingen?“, fragte Harry und nahm den Arm wieder von ihren Schultern. Er schien genau zu wissen, wann er Amy berühren durfte und wann nicht, wann er etwas sagen durfte, und wann es besser war zu schweigen.
Einsamkeit? Dieser Gedanke behagte Amy nicht. Schließlich hatte sie zwei liebe Kinder, ihre Freunde, ihre Arbeit … „Nein, natürlich bin ich nicht …“
„Einsam“, ergänzte Harry ihren Satz und zog eine Augenbraue in die Höhe.
Amy seufzte. „Gut“, gab sie zu. „Manchmal fühle ich mich ein wenig isoliert. Aber hat nicht jeder solche Momente?“
Der Wind wirbelte Harrys glattes, dichtes Haar durcheinander. „Manchen Leuten geht es jahrelang so“, erklärte er und lehnte sich mit den Armen auf die Reling. „Manchen gar ein Leben lang.“
Amy wurde neugierig. „Und wie ist das mit dir?“, fragte sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein reicher, gut aussehender, gebildeter Mann wie Harry Griffith jemals einsam war.
„Es gab Tage – aber vor allem Nächte –, in denen ich dachte, ich sterbe vor Einsamkeit“, gestand er und sah Amy in die Augen.
Sie glaubte ihm. Dennoch konnte sie sich Harry in einem solchen Zustand nicht vorstellen. Er gehörte ganz offensichtlich zum Jetset, und sicher würde so manche Frau etwas darum geben, mit ihm zusammen sein zu dürfen.
Harry lächelte. „Wie ich sehe, nehmen Sie mir das nicht ab, Mrs Ryan“, neckte er.
„Doch. Es ist nur …“
Harry legte die Hand unter ihr Kinn und strich zärtlich mit dem Daumen über ihre Lippen. „Auch wenn man ständig von Leuten umgeben ist, kann man sich einsam fühlen oder Sehnsüchte haben, Amy.“
Amy fühlte sich wie durch eine unsichtbare Kraft zu ihm hingezogen; die Berührung ihrer Lippen weckte ihr Verlangen nach einem Kuss. Langsam senkte Harry den Kopf. Es waren nur noch wenige Millimeter, die sie von der Erfüllung ihrer Wünsche trennten, als Oliver angelaufen kam und den endgültigen Kontakt verhinderte.
„Mom?“, rief er und zupfte an ihrem Ärmel. „Hey, Mom! Wenn wir auf der Insel sind, darf ich dann schwimmen?“
Amy entfernte sich ein Stück von Harry. Ihr Bedauern war grenzenlos. Dennoch gelang es ihr, in normalem Ton mit ihrem Sohn zu sprechen. „Puget Sound ist zu kalt, um darin zu schwimmen, Oliver“, sagte sie. „Das weißt du doch.“
Harry lächelte verständnisvoll und strich dem Jungen übers Haar. Amy gefiel diese Einfühlsamkeit verratende Geste.
Wenig später
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