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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Endstation Wiesenhalde herum, den Rest der Geschichte kennen wir.«
    Beide schwiegen eine Weile. Dann sagte Fabio: »So könnte es gewesen sein.«
    »Nicht wahr? Nur: Weshalb sagte er nichts? Haben Sie dafür eine Erklärung?«
    »Vielleicht hatte er den Moment verpaßt. Und dann stellte sich heraus, daß ich mich nicht daran erinnern konnte. Da behielt er es für sich.«
    Tanner schüttelte mißbilligend den Kopf. »Nicht sehr schön von ihm.«
    »Nicht sehr«, bestätigte Fabio.
    »Mit Liebeskummer und so einer Sache auf dem Gewissen kann einer in einer Nacht wie gestern schon versucht sein, von einer Brücke zu springen.«
    Fabio gab ihm recht.

20
    In kleinen Grüppchen standen sie verlegen unter ihren Schirmen vor der Kapelle zwei. Unter dem Vordach hatten sich die nächsten Angehörigen versammelt. Lucas' Vater, ein großer, hagerer Mann mit bläulich getönten Haaren, stand verwundert mitten unter ihnen, als wäre er in die falsche Veranstaltung geraten. Lucas' Mutter, eine rundliche, lebenslustige Frau, hielt ihn an der Hand und blickte in kurzen Abständen besorgt zu ihm auf. Neben und hinter ihnen standen Frauen und Männer ihrer Generation, wohl Geschwister - Tanten und Onkel von Lucas. Fabio erkannte dessen älteren Bruder und die jüngere Schwester. Auch ein alter Mann an Krücken kam ihm bekannt vor. Bestimmt der Großonkel, dem das Gourrama gehörte.
    Im Niemandsland zwischen Angehörigen und übrigen Trauergästen stand Norina mit ihrer Mutter. Einen Moment lang glaubte Fabio, sie schaue ihn an und nicke ihm zu.
    Die ganze Redaktion war da. Rufer in Begleitung seiner Frau. Er trug einen dunklen Anzug und hatte seinen Schnurrbart wieder wachsen lassen. Sarah Mathey hatte einen breitkrempigen Hut auf, fast hätte Fabio sie nicht erkannt. Reto Berlauer hatte zu seiner Windjacke eine Krawatte umgebunden und eine lederne Umhängetasche dabei, als sei er auf Reportage.
    Der Verlag ließ sich durch Koller, den Personalchef, vertreten. Ein paar Journalisten von anderen Verlagstiteln waren gekommen. Und auch ein paar von der Konkurrenz.
    In einem größeren Grüppchen Journalisten entdeckte er Marlen. Sie trug Schwarz, was an ihr nicht als Trauerkleidung wirkte. Sie schaute kurz zu ihm herüber mit einem langsamen Kopfnicken, das er nicht deuten konnte. Am ehesten war es vorwurfsvoll.
    Dann beteiligte sie sich wieder am leisen, ernsten Gespräch.
    »Kontakt mit Journalisten ist mein Beruf«, hatte sie ihm einmal erklärt.
    Zögernd näherten sich die Trauergäste dem Eingang, schüttelten ihre Schirme und stellten sich bei den Angehörigen zum Kondolieren an.
    Als Fabio Lucas' Mutter die Hand geben wollte, nahm sie ihn in die Arme und drückte ihn fest. Er hielt sie auch und zählte die Sekunden, bis sie ihn wieder losließ.
    »Das ist Fabio«, half sie, als er ihrem Mann die Hand gab. Lucas' Vater erinnerte sich nicht.
    »Lucas' bester Freund«, ergänzte sie.
    Kapelle zwei enthielt keine religiösen Symbole. Ein Blumenarrangement auf beiden Seiten des Rednerpults und eine neutrale Kerze ohne Flamme war alles, was man zur Unterstreichung der Feierlichkeit des Anlasses zugelassen hatte. Fabio fragte sich, ob die Friedhofsverwaltung Nummerncodes für die verschiedenen religiösen Ausstattungen der Räumlichkeiten erarbeitet hatte und ob auch schon Verwechslungen passiert waren.
    In der Kapelle war es kühl. Das schwache Licht des regenverhangenen Tages fiel durch die konstruktivistischen Glasmalereien. Das einzige, was ein wenig Wärme ausstrahlte, war das Leselämpchen am Rednerpult.
    Die Feier begann mit einem Cellosolo. Fabio erinnerte sich, daß Lucas sich einmal als Atheist bezeichnet hatte. Von einer Vorliebe für neutönerische Cellomusik hatte er nie etwas erwähnt.
    Nach der Musikeinlage betrat Lucas' Bruder nervös das Rednerpult und verlas einen Lebenslauf. Danach wieder das Cello.
    Lucas' Schwester trug etwas vor, das Fabio ganz zum Schluß als Gottfried-Benn-Gedicht erkannte. Sie bat die Anwesenden, die folgende Minute des Schweigens in Gedanken an Lucas zu verweilen. Fabio betete ein Vaterunser und ein Ave-Maria und dankte dem lieben Gott, daß er katholisch war.
    Das Ende der Schweigeminute wurde durch einen weiteren Cellovortrag angezeigt. Mittendrin schluchzte jemand laut auf.
    Fabio saß drei Reihen hinter Lucas' Vater. Die ganze Zeit über hatte er die Gestalt vor sich gehabt, die auch im Sitzen alle überragte. Am Anfang hatte sie sich noch ab und zu verwundert umgesehen. Dann war sie ganz

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