Ein Pirat zum Verlieben
ihr keine Ruhe ließen. Wie kam es, dass all diese intelligenten Männer sich keinen Reim darauf machen konnten? Sie holte tief Luft und zog die entsprechende Schublade auf. Sie hatte gesehen, wie Duncan die Sachen dort hingelegt hatte. Der in Ölzeug eingeschlagene Packen schien sie herausfordernd anzustarren. Mit einem Achselzucken nahm sie ihn heraus, löste die Verschnürung und schlug das in Leder gebundene Logbuch auf. Sie blätterte eine Seite nach der anderen um und las jede Eintragung. Dane hatte Recht, es war ein fürchterliches Geschmiere.
Eine halbe Stunde später war sie immer noch nicht schlau daraus geworden. Die Buchstaben waren achtlos hingeworfen, und die schwarzen Tintenflecken, mit denen das schwere Pergament übersät war, machte es noch schwieriger, das Gekritzel zu entziffern. Tess rieb sich die Stirn, stand dann auf und suchte in ihrer Tasche unter all dem Krimskrams nach einer Tylenol und einem Kugelschreiber. Sie goss sich ein Glas Wasser ein und schluckte die Tablette, wobei sie sich mit dem Kugelschreiber ins Auge stach. Sie rieb sich die Stelle und langte nach ihrer Tasche, um einen Notizblock zu suchen, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. Ein Kode. Es musste ein Kode sein.
Unter all dem militärischen Kram ihres Vaters, der damals im Haus herumlag, hatte sie einmal zufällig zwei Kodebücher entdeckt – überholte Kodebücher natürlich. Zum Kuckuck, Kinder von Marineangehörigen schickten sich gern Nachrichten in einfachen Kodes. Jedes Kind machte so etwas mindestens einmal im Leben. Tess nahm Glas, Kugelschreiber und Block zum Schreibtisch und hockte sich mit verschränkten Beinen auf den Sessel. Sie versuchte es mit mehreren Varianten, an die sie sich aus den Büchern noch erinnern konnte. Keine von ihnen funktionierte, aber sie ließ nicht locker. Sie wusste, dass sie auf der richtigen Spur war.
»Mist!«, sagte sie fast eine Stunde später, nicht wirklich überrascht, dass es sich um den simpelsten Kode handelte. Das Alphabet wurde in der Hälfte geteilt, die Buchstaben umgekehrt; genauso wurde mit den restlichen Buchstaben verfahren, was bedeutete, dass der siebte und der zwanzigste Buchstabe unverändert blieben. Ein Kinderspiel. Die Zahlen waren auf nahezu identische Weise chiffriert. Es handelte sich um Längen- und Breitengrade, mit denen Tess nicht das Geringste anfangen konnte, aber sie schrieb alles getreulich auf. Für irgendetwas, das sie nicht verstand, waren Symbole eingesetzt. Sie überging diese Stellen einfach, markierte sie aber.
Sie hielt einen Moment inne und dachte an Dane und daran, was er mit ihr machen würde, wenn er dahinter kam, dass sie an seinem Schreibtisch gewesen war. Also, schlimmstenfalls konnte er sie über Bord werfen, entschied sie und machte weiter.
Am meisten machte ihr etwas anderes zu schaffen, das sie bei ihrer Arbeit entdeckte. Bennett hatte in seinen Logbüchern auch eine Art Tagebuch geführt, was nicht üblich war, wie sie wusste. Tess ließ die betreffenden Stellen aus, nachdem sie sie gelesen hatte. Dane musste weder die widerwärtig anschaulichen Details über den Tod seiner Schwester erfahren noch genau wissen, wie sein Vater um die Hälfte seines Vermögens geprellt worden war. Sie schob die dechiffrierte Seite zwischen das Pergament und ging zur nächsten Seite weiter. Ein Berg Papier wuchs um sie herum. Schließlich machte sie eine Pause, um das Bad aufzusuchen und ihr Glas aufzufüllen. Ihre Augen brannten, und der Rücken tat ihr weh, aber sie verdrängte den Schmerz und machte weiter, ohne zu merken, dass es draußen langsam Tag wurde.
* **
Dane zog behutsam die Tür auf und spähte in die Kajüte. Dann runzelte er die Stirn, trat ein und schloss hinter sich die Tür. Tess saß an seinem Schreibtisch, den Kopf auf die Platte gelegt, und schlief tief und fest. Ringsum türmte sich Papier. Er ging auf sie zu, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich, als er sah, dass ihre Wange auf Bennetts Logbuch ruhte. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand er vor ihr, drauf und dran, sie zur Rede zu stellen, weil sie in seinen Privatsachen herumgeschnüffelt hatte. Bis sein Blick auf ihre Hand fiel. Seine angespannten Muskeln lockerten sich, und er langte nach dem Gegenstand, der zwischen ihren schlaffen Fingern lag. Verdutzt starrte er das schlanke Stäbchen an, drehte es in seiner Hand hin und her und drückte schließlich auf das silberne Endstück. Es klickte und unten erschien eine scharfe Spitze. Was zum Teufel …?, fragte er
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