Ein plötzlicher Todesfall
hatten sie und Kay fest zusammengehalten (denn ihr Vater hatte nie bei ihnen gelebt, und auch die beiden folgenden Beziehungen Kays waren nicht von Bestand gewesen). Sie hatten sich gezankt und wieder vertragen und sich im Lauf der Jahre immer mehr in eine Art WG verwandelt. Jetzt sah Gaia jedoch nur noch eine Feindin vor sich, wenn sie über den Küchentisch schaute. Ihr einziger Ehrgeiz war, nach London zurückzukehren, mit allen Mitteln, und Kay möglichst unglücklich zu machen, aus Rache. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob Kay mehr gestraft wäre, wenn Gaia durch sämtliche Prüfungen der Sekundarstufe fiel oder wenn sie bestand und versuchte, ihren Vater zu überreden, sie bei sich aufzunehmen, während sie in London ihren höheren Schulabschluss machte. Bis dahin musste sie unter AuÃerirdischen leben, bei denen ihr Aussehen und ihr Akzent, früher Eintrittskarten in höchst auserlesene gesellschaftliche Kreise, zu einer Fremdwährung verkommen waren.
Gaia hatte nicht den Wunsch, eine beliebte Schülerin an der Winterdown zu werden. Sie fand die anderen peinlich, mit ihrem West-Country-Akzent und ihren erbärmlichen Vorstellungen davon, was Spaà war. An Sukhvinder Jawanda hängte sie sich zum Teil deshalb so entschlossen, weil sie der angesagten Szene zeigen wollte, wie lächerlich die in ihren Augen war, zum Teil auch, weil sie in der Stimmung war, sich allen verwandt zu fühlen, die einen AuÃenseiterstatus bekleideten.
Mit ihrer Zustimmung, neben Gaia zu kellnern, hatte Sukhvinder ihre Freundschaft vertieft. In ihrer nächsten Doppelstunde Biologie fühlte sich Gaia wohl wie noch nie, und Sukhvinder erhaschte endlich einen Blick auf den rätselhaften Grund, warum diese schöne, coole Neue sie zur Freundin auserkoren hatte. Während sie die Schärfe an ihrem gemeinsamen Mikroskop einstellte, murmelte Gaia: »Ist alles so verdammt weià hier, oder?«
Sukhvinder hörte sich »Ja« sagen, bevor sie richtig über die Frage nachgedacht hatte. Gaia redete noch immer, doch Sukhvinder hörte nur halb hin. »So verdammt weiÃ.« Konnte man wohl sagen.
In der St. Thomas hatte sie, die Einzige in der Klasse mit brauner Hautfarbe, aufstehen und über die Religion der Sikh sprechen müssen. Gehorsam hatte sie sich vor die Klasse gestellt und die Geschichte über Guru Nanak erzählt, den Begründer der Sikh-Religion, der in einem Fluss verschwand, woraufhin man dachte, er sei ertrunken. Aber nach drei Tagen unter Wasser war er wieder aufgetaucht und hatte verkündet: »Es gibt keinen Hindu, es gibt keinen Muslim.«
Die anderen Kinder hatten bei der Vorstellung, dass jemand drei Tage unter Wasser überlebt, nur gekichert. Sukhvinder hatte nicht den Mut aufgebracht, darauf hinzuweisen, dass Jesus gestorben und dann wieder von den Toten auferstanden war. Sie hatte die Geschichte über Guru Nanak abgekürzt, weil sie unbedingt wieder an ihren Platz zurückwollte. Sie hatte in ihrem Leben nur ein paar Mal ein Gurdwara besucht. In Pagford gab es keins, und das in Yarvil war winzig und, ihren Eltern zufolge, beherrscht von der Chamar-Kaste, der sie selbst nicht angehörten. Sukhvinder begriff nicht einmal, warum das eine Rolle spielte, denn sie wusste, dass Guru Nanak Kastenunterschiede ausdrücklich verbot. Das alles war sehr verwirrend. Und sie freute sich weiterhin an Ostereiern und dem Schmücken des Weihnachtsbaums. Die Bücher, die Parminder ihren Kindern aufzwang, über das Leben der Gurus und die Grundsätze der Khalsa, fand Sukhvinder äuÃerst schwierig zu lesen.
Auch Besuche bei der Familie ihrer Mutter in Birmingham, in StraÃen, in denen fast alle braunhäutig waren, die Geschäfte voll mit Saris und indischen Gewürzen, verliehen Sukhvinder das Gefühl, fehl am Platz und unzulänglich zu sein. Ihre Vettern und Kusinen sprachen Pandschabi ebenso flüssig wie Englisch und führten ein cooles Stadtleben. Ihre Kusinen sahen gut aus und waren modisch gekleidet. Sie lachten über Sukhvinders schleppenden West-Country-Akzent und ihr mangelndes Modebewusstsein, und Sukhvinder konnte es nicht ausstehen, wenn man über sie lachte. Bevor Fats Wall sein System der täglichen Qualen in Gang gesetzt hatte, bevor ihre Klasse in Kurse und Arbeitsgruppen aufgeteilt worden war und sie plötzlich jeden Tag Kontakt mit Dane Tully hatte, war sie immer wieder gern nach Pagford
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