Ein plötzlicher Todesfall
Könnte sie doch nur sterben ⦠Könnte sie doch nur für immer verschwinden ⦠Aber die feste Oberfläche der Gegenstände ringsum wollte sich nicht auflösen, und ihr Körper, dieser verhasste Körper eines Hermaphroditen, lebte in seiner sturen, dummen Art weiter.
Sie hörte das Läuten zu Beginn des Nachmittagsunterrichts, sprang auf und lief aus der Toilette. Im Flur bildeten sich Schlangen. Sie kehrte allen den Rücken zu und ging mit langen, entschlossenen Schritten aus dem Gebäude.
Auch andere schwänzten. Krystal und Fats Wall zum Beispiel. Wenn sie doch nur davonkommen und den Nachmittag wegbleiben könnte, würde ihr vielleicht etwas einfallen, um sich zu schützen, bevor sie wieder hineinmusste. Oder sie könnte vor ein Auto laufen. Sie stellte sich den Aufprall vor, wie ihre Knochen zermalmt würden. Wie schnell würde sie sterben, so zerschmettert auf der StraÃe? Die Vorstellung zu ertrinken gefiel ihr jedoch noch besser; kühles, klares Wasser, das sie für immer in den Schlaf wiegen würde, einen Schlaf ohne Träume.
»Sukhvinder? Sukhvinder! «
Ihr drehte sich der Magen um. Tessa Wall kam durch den Park auf sie zugelaufen. Einen verrückten Augenblick lang überlegte sich Sukhvinder fortzurennen, doch dann überwältigte sie die Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens, und sie blieb stehen und wartete, bis Tessa bei ihr war. Sukhvinder hasste diese Frau mit ihrem blöden, unscheinbaren Gesicht und ihrem gemeinen Sohn.
»Sukhvinder, was machst du? Wo gehst du hin?«
Sie konnte sich nicht einmal eine Lüge ausdenken. Mit hoffnungslosem Schulterzucken gab sie sich geschlagen.
Tessa hatte bis drei Uhr keine Termine. Sie hätte Sukhvinder mit ins Büro nehmen und ihre versuchte Flucht melden sollen. Stattdessen nahm sie Sukhvinder mit hinauf ins Beratungszimmer mit den Postern für das Sorgentelefon. Sukhvinder war noch nie dort gewesen.
Tessa sprach und machte einladende kleine Pausen, dann sprach sie wieder, und Sukhvinder saà mit schweiÃnassen Handflächen vor ihr, den Blick starr auf ihre Schuhe gerichtet. Tessa kannte Parminder. Tessa würde ihr erzählen, dass Sukhvinder versucht hatte zu schwänzen. Und wenn sie erklärte, warum? Würde Tessa ihr helfen? Könnte sie es überhaupt? Nicht bei ihrem Sohn, denn Fats hatte sie nicht im Griff, das war allgemein bekannt. Aber bei Krystal? Krystal kam zur Beratung.
Wie schlimm würden die Prügel ausfallen, wenn sie es erzählte? Aber wenn sie es nicht sagte, würde sie auf jeden Fall vermöbelt. Krystal war drauf und dran gewesen, ihre ganze Clique auf sie zu hetzen.
»Ist etwas passiert, Sukhvinder?«
Sie nickte. Tessa ermutigte sie: »Kannst du es mir erzählen?«
Also berichtete Sukhvinder.
Das kaum wahrnehmbare Zucken auf Tessas Stirn deutete auf etwas anderes hin als Mitleid für sich. Vielleicht dachte Tessa daran, wie Parminder wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass ihre Behandlung von Mrs Catherine Weedon in aller Munde war. Sukhvinder hatte nicht vergessen, sich darüber Sorgen zu machen, als sie in der Toilettenkabine saà und sich den Tod gewünscht hatte. Vielleicht sah Tessa aber auch deshalb so beunruhigt aus, weil sie Krystal Weedon nicht zur Rede stellen wollte. Zweifellos war Krystal auch ihr Liebling, so wie sie Mr Fairbrothers Liebling gewesen war.
Ein wildes, brennendes Gefühl der Ungerechtigkeit durchbrach Sukhvinders Elend, ihre Angst und ihre Selbstverachtung, wischte das Gewirr aus Sorgen und Nöten beiseite, das sie tagtäglich umfing. Sie dachte an Krystal und ihre Freundinnen, die nur darauf warteten anzugreifen. Sie dachte an Fats, der in jeder Mathestunde hinter ihr saà und ihr giftige Wörter zuflüsterte, und an die Nachricht, die sie am Abend zuvor von ihrer Facebookseite gelöscht hatte:
Les-bi-a-nis-mus, m. Gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung von Frauen. Auch Sapphismus genannt. Nach den Ureinwohnerinnen der Insel Lesbos.
»Ich weià nicht, woher sie es weië, sagte Sukhvinder, der das Blut in den Ohren pochte.
»Wei�«, fragte Tessa, noch immer mit besorgter Miene.
»Dass eine Beschwerde gegen Mum wegen Krystals UrgroÃmutter eingereicht wurde. Krystal und ihre Mum sprechen nicht mit dem Rest der Familie. Vielleicht«, sagte Sukhvinder, »hat Fats es ihr erzählt?«
»Fats?«, wiederholte Tessa
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