Ein plötzlicher Todesfall
Sonnenblume aus einem Kern gezogen, wollte sie abschneiden und auf den Sarg legen. Alle vier Kinder hatten Briefe geschrieben, die zu ihrem Vater in den Sarg gelegt werden sollten. Auch Mary hatte einen verfasst, den sie in Barrys Hemdtasche stecken würde, über seinem Herzen.
Als Gavin auflegte, war ihm fast schlecht. Er wollte nichts über Kinderbriefe, über die lange behütete Sonnenblume wissen, doch seine Gedanken kehrten ständig zu diesen Dingen zurück, während er allein an seinem Küchentisch Lasagne aÃ. Obwohl er alles dafür getan hätte, diesen Brief nicht lesen zu müssen, versuchte er sich trotzdem immer wieder vorzustellen, was Mary geschrieben hatte.
Ein schwarzer Anzug hing unter der Plastikhülle der Reinigung in seinem Schlafzimmer wie ein unwillkommener Gast. Seine Dankbarkeit für die Ehre, von Mary öffentlich als einer derjenigen anerkannt zu werden, der dem beliebten Barry am nächsten gestanden hatte, war längst einem Gefühl des Grauens gewichen. Als er schlieÃlich seinen Teller und das Besteck abwusch, hätte Gavin gern auf die gesamte Beerdigung verzichtet. Auf die Idee, sich die Leiche seines toten Freundes anzusehen, wäre er nie und nimmer gekommen.
Kay und er hatten am Abend zuvor einen hässlichen Streit gehabt und seither nicht mehr miteinander gesprochen. Angefangen hatte es damit, dass Kay ihn gefragt hatte, ob sie ihn zur Beerdigung begleiten solle.
»GroÃer Gott, nein«, war es Gavin herausgerutscht.
Er hatte ihren Gesichtsausdruck gesehen und sofort gewusst, dass sie es als GroÃer Gott, nein, die Leute werden denken, wir sind ein Paar. GroÃer Gott, nein, was sollte ich da mit dir? verstanden hatte. Und obwohl das genau seinen Gefühlen entsprach, hatte er versucht, sich da rauszuwinden.
»Ich meine, du hast ihn ja nicht gekannt. Das wäre dann doch ein bisschen seltsam.«
Aber Kay war auf ihn losgegangen, hatte ihn in die Enge treiben und von ihm wissen wollen, was er wirklich empfinde, was er wolle, welche Zukunft er sich für sie beide vorstelle. Er hatte mit jeder Waffe aus seinem Arsenal zurückgeschlagen, hatte sich abwechselnd begriffsstutzig, ausweichend und pedantisch gegeben. Seine erfolgreichste Taktik, emotional aufgeladenen Themen die Spitze zu nehmen, war, jedes Wort genauestens zu hinterfragen. Am Ende hatte sie ihn hinausgeworfen. Er war gegangen, wusste aber, dass es noch nicht vorbei war. Das wäre der Hoffnung zu viel gewesen. Gavins Spiegelbild im Küchenfenster sah abgespannt und elend aus. Er fühlte sich unzulänglich und schuldig, aber er wünschte sich trotzdem, dass Kay nach London zurückziehen würde.
Nacht fiel über Pagford, und im alten Pfarrhaus sah Parminder ihren Kleiderschrank durch auf der Suche nach etwas Geeignetem, um sich von Barry zu verabschieden. Sie besaà verschiedene dunkle Kleider und Kostüme, die alle passend wären, dennoch stand sie vor dem Schrank und konnte sich nicht entscheiden.
Trag einen Sari. Damit sich Shirley Mollison aufregen kann. Na los, trag einen Sari.
Das zu denken war so dämlich â verrückt und falsch â, und sogar noch schlimmer, es mit Barrys Stimme zu denken. Barry war tot, sie war nun seit fast fünf Tagen in tiefster Trauer um ihn, und morgen würden sie ihn begraben. Diese Vorstellung war Parminder unangenehm, der Gedanke, dass da ein toter Körper unter der Erde lag, allmählich verweste, von Maden zerfressen wurde. Die Sikhs pflegten ihre Toten zu verbrennen und die Asche in einen Fluss zu streuen.
Sie lieà den Blick über die hängenden Kleidungsstücke wandern, aber ihre Saris, damals in Birmingham zu Familienhochzeiten und Zusammenkünften getragen, drängten sich ihr geradezu auf. Woher kam dieses seltsame Verlangen, einen Sari anzuziehen? Das erschien ihr ungewöhnlich exhibitionistisch. Sie berührte den Stoff ihres Lieblingssaris, in Dunkelblau und Gold. Den hatte sie zuletzt zur Neujahrsparty der Fairbrothers getragen, als Barry ihr hatte beibringen wollen, Jive zu tanzen. Das Experiment war völlig missglückt, da er selber nicht recht wusste, was er da machte, aber sie erinnerte sich, dass sie gelacht hatte wie nur selten, unkontrolliert, ausgelassen, wie sie es sonst nur bei betrunkenen Frauen erlebt hatte.
Der Sari war elegant und feminin, nachsichtig gegenüber der Körperfülle reiferer Frauen. Parminders Mutter, die
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