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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Langeweile. Wahrscheinlich schlich sie sich nachts hinaus und lief zur Hauptstraße, um per Anhalter wegzukommen, die Tasche voll mit geklauten Scheinen, dazu Zigaretten und Kaugummi. Laster würden vorbeidonnern. Und Bridie war unterwegs zum nächsten Ort, wo nachts irgendetwas los war. Egal wohin, bloß weg aus Kilbran, einer grauen alten Marktstadt, wie sie im Buche stand, ohne jedes Leben. Wohl kaum die beste Lage für ein Bed-&-Breakfast-Hotel, und schon gar nicht mitten im Winter.
    Shell runzelte die Stirn. Drüben an der Eibe sah sie Jimmy, der sich mit jemandem prügelte, aber sie konnte nicht erkennen, wer es war. Mrs McGrath stand vor dem Kirchentor und tratschte mit Mrs Fallon. Shell war sich sicher, am Ende jedes Satzes die Worte Pater Rose von ihren Lippen abzulesen. Der Gedanke an Bridie verblasste und im nächsten Moment befand sie sich wieder auf der Garda-Wache. War es jemand aus Coolbar, Shell?, fragte Pater Rose. Aus Coolbar oder noch näher? Sie sah Dad vor sich, seine zittrigen Hände. Damals nach jener Nacht. Als ich in dem leeren Haus aufgewacht bin. Es lag an dem rosa Kleid, Shell. Ich habe eine Todsünde begangen.
    Sie schlug die Augen auf. Mein Gott. Eine schreckliche Erkenntnis dämmerte ihr. Das ganze Dorf dachte, Pater Rose wäre es gewesen. Und Pater Rose dachte, Dad wäre es gewesen. Und Dad selbst? Ich habe all das angerichtet, Shell. Ich habe es getan.
    Er stand wieder neben ihrem Bett, tastete nach der Decke, mit halb geschlossenen Augen. Moira, meine Moira. Die Nacht zum Ostersonntag. Plötzlich wurde ihr alles klar. Er musste am Morgen aufgewacht sein, ohne jegliche Erinnerung an die vergangene Nacht, und stellte fest, dass er in ihrem Bett lag. Was hatte er wohl daraus geschlossen?
O weh, du alter Tor, du musst betrunken sein,
wenn dein Auge es nicht blickt:
Diese schöne weiße Sau
hat meine Mutter mir geschickt.
    Ein Junge aus Jimmys Klasse glotzte ins Auto und streckte ihr die Zunge heraus. Sie starrte durch ihn hindurch, ohne ihn wahrzunehmen, und er jagte davon. Wenig später öffnete sich die Wagentür. Jimmy und die beiden Söhne der Duggans, Liam und John, stiegen ein. Trix folgte und quetschte sich neben Shell auf den Beifahrersitz.
    Dann stieg Mrs Duggan ein. »Da bist du ja.« Sie tätschelte Shells Arm. »Alles in Ordnung?«
    »Ja, Mrs Duggan. Alles okay.« Man muss nicht sterben, um in die Hölle zu kommen, Shell. Jeder Teufel kann einen jederzeit dorthin bringen.
    Mrs Duggan seufzte und startete den Wagen. »War das eine Messe, Shell«, sagte sie leise, »oder ein Spaziergang im Zoo?«

Sechsundvierzig
    Am nächsten Tag besuchte sie Dad erneut, in der Hoffnung, ihn von seinen Seelenqualen erlösen zu können. Vielleicht würde ihn das ja dazu bringen, zu widerrufen.
    Er kam in den Raum mit dem Milchglasfenster geschlurft, angespannt und nervös, und nahm gegenüber von ihr Platz, mit finsterer Miene. Der Wachtposten ließ sie allein.
    »Die Nacht zum Ostersonntag, Dad«, flüsterte sie.
    »Sei still, Shell.«
    »Dad.«
    Er packte sie am Ärmel. »Hättest du nicht ein Fläschchen mitbringen können? Nur einen Tropfen. Wie beim letzten Mal? Was?«
    Er war in einem Zustand der Verzweiflung. Seine Augen wirkten matt wie schmutzige Münzen, seine Lippen hatten gelbe Risse, sein Haar war dunkel und fettig.
    »Letztes Mal wolltest du doch nichts, Dad. Weißt du noch?«
    Er stieß ein Knurren aus.
    »Du hast es an die Wand geworfen.«
    Seine Finger trommelten auf die Tischplatte. »Ich erinnere mich an keine Nacht. Ich erinnere mich an gar nichts. Verdammt, ich könnte jemanden umbringen.«
    »Dad. Du musst dich doch erinnern. Du hast mir doch selbst davon erzählt. Von der Nacht auf Ostersonntag. Wie du aufgewacht bist und niemand war im Haus. Dass Trix, Jimmy und ich weg waren.«
    Er stand auf, zuckend. Die Finger seiner rechten Hand fuhren kratzend über seinen linken Oberarm. Er trat an das Milchglasfenster, stand kratzend da, als hätte er Flöhe, starrte auf die weiße Scheibe, als könnte er hindurchsehen.
    »Erinnerst du dich, Dad? Erinnerst du dich?«
    »Hör auf, Shell. Du klingst wie eine kaputte Schallplatte.«
    Sie stand auf und ging auf ihn zu. »Dad.«
    »Lass mich in Ruhe, Shell. Ich bin nicht zum Reden aufgelegt.«
    »Erinnerst du dich an das rosa Kleid?«
    Seine Füße begannen zu tappen, als hätte ihm jemand den Inhalt einer ganzen Schachtel magischen Tanzpulvers in die Schuhe geschüttet. »Großer Gott. Hörst du endlich mal damit auf?«
    »Das rosa

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