Ein reiner Schrei (German Edition)
Kleid, Dad. Das Kleid, das du nicht verbrannt hast.«
»Schluss jetzt, Shell.«
Sie streckte eine Hand aus, damit das Kratzen aufhörte. »Du hast nichts getan, Dad.«
Er hatte sie abgeschüttelt, hielt sich die Ohren zu.
»Du hast nichts getan«, sagte sie lauter. »In der Nacht zum Ostersonntag. Du hast nichts getan.«
Seine Augen waren fest zusammengekniffen, sein Kopf ruckte und zuckte. Als Nächstes würde er unverständliche Laute ausstoßen und sich am Boden wälzen.
»Dad.« Er öffnete die Augen und sie dachte, dass er jeden Moment losbrüllen würde. Doch er tat es nicht. Seine Füße standen still. Das Kratzen hörte auf. Der Kopf hielt inne.
»Was hast du da eben gesagt?«, flüsterte er.
»Du hast nichts getan, Dad.«
»In der Nacht auf Ostersonntag?«
Sie nickte. Das Grab war verschlossen, die Welt schwieg. »Nichts ist passiert.« Mums Finger streiften ihr Gesicht, als sie den hohen Ton ihres Liedes erreichte, jenen raschen reinen Schrei. Dad mit halb geschlossenen Augen. Seine abstoßende Blöße. Moira. Geh nicht weg, Liebchen, komm zu mir. »Du hast mich für sie gehalten, nicht wahr?«
Er griff sich mit beiden Händen an die Kehle. »Ihre Augen, Shell. Sie verfolgen mich überallhin.«
»Du bist hereingekommen, Dad. Verwirrt vom Alkohol. Und hast dauernd ihren Namen wiederholt. Erinnerst du dich?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist wie ein verschlossenes Buch.«
»Das Kleid hat dich verwirrt, Dad.«
»Das Kleid?«
»Ich hatte es angezogen und bin darin eingeschlafen. Das rosa Kleid.«
»Gott, vergib mir«, flüsterte er.
»Du warst wie ein Blinder, wie ein Schlafwandler, hast am Fußende meines Bettes gestanden und umhergetastet. Aber Mum hat mich geweckt. Sie ist mir im Traum erschienen und hat mich geweckt. Ich habe mich schnell aus dem Bett gerollt. Und du bist hineingefallen und hast das Bewusstsein verloren. Ich habe dich dort liegen lassen. Das war alles.«
Er knetete die Haut an seiner Kehle. »Alles?«
»Alles.«
»Nichts … nichts weiter?« Seine Finger fuhren nach oben, begannen an den Lippen zu zupfen. Sie sah die Worte in seinen Augen flackern. Alles. Nichts. Alles.
»Nichts.«
»Ganz ehrlich?«
»Nichts. Bei Gott.«
»Ich habe … dich nicht berührt?«
»Du warst überhaupt nicht dazu in der Lage, Dad.«
»Gelobt sei Gott.« Seine Nasenflügel bebten. Er nickte, schloss die Augen und bekreuzigte sich. Ein Auge öffnete sich wieder. »Ich habe dein Wort drauf«, sagte er.
»Es ist wahr, Dad. Würde ich bei so einer Sache lügen?«
»Gott sei gedankt. Und du bist sicher, Shell?«
»Absolut, Dad. So wahr Gott mein Zeuge ist.«
Es folgte ein langes Schweigen. Shell sank auf ihren Stuhl.
»Ich habe deine Mum geliebt, Shell.« Es war fast ein Wimmern.
»Ich weiß, Dad.«
»Das rosa Kleid ist nicht das Einzige, was ich aufgehoben habe.«
»Nein?«
»Nein. Den hier auch.« Er griff in seine Jackentasche. »Sie haben versucht ihn mir wegzunehmen, aber ich hab’s nicht zugelassen.« Er hielt ihr den goldenen Ehering hin, den er bei der Aufbahrung von Mums Hand gezogen hatte. »Man war der Meinung, dass ich ihn ihr lassen und sie mit dem Ring begraben sollte, aber ich konnte es nicht. Ich nahm ihn ihr ab, ehe der Sarg geschlossen wurde. Er passte mir nicht mal am kleinen Finger, Shell, so zierlich waren ihre Hände. Schlank vom vielen Klavierspielen. Und die Art, wie sie über die Tasten jagten, auf und ab, wie winzige Vögel. Also behielt ich ihn in meiner Tasche. Die ganze Zeit, immer in derselben Tasche, an meiner Brust. Überall, wo ich hinging. Sogar hier. Sie haben versucht ihn mir wegzunehmen, aber ich hab’s nicht zugelassen.«
Sie starrte ihn an. Sie hatte gedacht, er hätte ihn für einen Drink verscherbelt, aber sie hatte sich geirrt. »Ist sie dir erschienen, Dad? So wie mir?«
Er nickte. »Jeden Tag, in jeder Sekunde, Shell. Ihre vorwurfsvollen Augen. Die mir sagen, dass ich mit dem Trinken aufhören soll.«
Er setzte sich wieder hin und legte den Ring in das Astloch auf der Tischplatte, kreuzte die Arme und griff sich wieder an die Ellbogen, als steckte er in einer unsichtbaren Zwangsjacke. »Wenn sie mich hier rauslassen, bin ich ganz schnell wieder drüben im Pub. Ich weiß es. Lieber geh ich ins Gefängnis, für den Rest meines Lebens. Für euch ist es doch eh dasselbe. Ich bin euch ein miserabler Vater gewesen.«
»Aber Dad. Dieses Baby am Strand. Es hat mit uns überhaupt nichts zu tun.«
»Das sagst du so.«
»Glaubst du mir etwa
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