Ein Ring von Tiffany - Roman
anderen Tisch gebeten, aber Jesse konnte jede Sekunde aufkreuzen, und sie wollte vor ihm nicht gleich als große Meckerliese dastehen. Sie hatte extrem schlecht geschlafen, wozu nicht nur die Aufregung vor dem Lunch mit ihrem Starautor beigetragen hatte, sondern auch das nächtliche Gepolter von oben. Vielleicht konnte sie sich wenigstens unauffällig einen Stöpsel ins Ohr stecken und sich von ihrem treuen iPod (auf dem sie nur Klassik und Entspannungsmusik
aufgenommen hatte) die Nerven streicheln lassen. Sie war gerade dabei, das Kabel zu entwirren, als der Oberkellner Jesse an ihren Tisch führte.
»Schön, dass wir uns wiedersehen«, sagte sie höflich. Sie stand absichtlich nicht auf, um ihn zu begrüßen, sondern streckte ihm nur die Hand hin.
Er beugte sich herunter und gab ihr einen Wangenkuss. Obwohl es nur ein automatischer, vollkommen unpersönlicher Begrüßungskuss war, verspürte Leigh ein leises Kribbeln. Das sind bloß die Nerven , dachte sie.
Jesse stand neben dem Stuhl, den der Kellner ihm zurechtgerückt hatte, und ließ den Blick durch das Restaurant wandern. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns an einen anderen Tisch setzen, Leigh?« Er starrte auf die beiden Anzugträger hinter ihr, von denen der eine immer noch in sein Handy plärrte, und sagte vernehmlich: »Ich hab etwas gegen Banausen, die im Restaurant in ihr Handy brüllen.«
Sein Rüffel prallte an dem Sünder ungehört ab, aber Leigh wäre ihm vor Erleichterung fast um den Hals gefallen. »Ja, es ist nicht zum Aushalten«, antwortete sie. Während sie hastig ihre Sachen zusammensuchte, winkte Jesse den Kellner heran. Erst nachdem sie in einer ruhigen Ecke im hinteren Teil des Gastraums Platz genommen hatten, erlaubte sich Leigh einen raschen Blick auf Jesse Chapman.
Er trug Jeans und Blazer, möglicherweise dieselben Sachen wie damals in Henrys Büro. Seine Haare waren zerstrubbelt. Der nachlässig-lässige Knitterlook rief Leigh umso deutlicher ins Gedächtnis, wie viel Zeit (und Mühe) sie auf ihr Aussehen verwendet hatte.
So sorgfältig wie an diesem Morgen hatte sie sich schon lange nicht mehr zurechtgemacht. In letzter Zeit hatte sie so wenig Muße - und bekam so wenig Schlaf -, dass sie die Schönheitspflege, für die sie eigentlich eine Stunde brauchte, auf das absolute Minimum reduziert hatte: Haare waschen, kurz mit dem
Föhn drüber, einmal schnell die Wimpern tuschen, Lippenstift drauf und ab durch die Mitte. Aber heute war es anders gewesen. Nachdem sie aufgestanden war, ohne den Wecker auf Schlummeralarm zu stellen, um Russell nicht zu wecken, hatte sich ihr Körper wie ferngesteuert in Bewegung gesetzt und mit ihrem Äußeren den größtmöglichen Aufwand getrieben.
Sie hatte ewig lang hin und her überlegt, was sie zu ihrem ersten offiziellen Treffen mit Jesse anziehen sollte. Obwohl er sich wahrscheinlich eher leger geben würde, wollte sie absolut professionell auftreten. Ihr Vater hatte sie oft genug darauf hingewiesen, dass ein älterer männlicher Autor in ihr immer zuerst die Frau und erst dann die Lektorin sehen würde. Wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte, sich bei ihnen Respekt zu verschaffen, müsste sie ihre Weiblichkeit nach Kräften herunterspielen. Oder sie zumindest nicht auch noch betonen. Leigh hatte sich immer streng an diese Regel gehalten, aber ausgerechnet heute - vor ihrem wichtigsten Geschäftstermin aller Zeiten - konnte sie sich einfach nicht zum schwarzen Hosenanzug überwinden. Oder zum anthrazitfarbenen. Oder zum dunkelblauen. Auch der übliche Baumwollslip schien der Gelegenheit nicht angemessen, und so zog sie stattdessen einen heißen Stringtanga und einen scharfen Netz-BH in Pink an, der nicht viel Halt gab und kaum etwas verbarg. Warum soll ich nicht ein bisschen aufrüsten? , dachte sie. Außerdem waren die Dessous eher hübsch als sexy. Darüber kam ihr Lieblingswickelkleid von Diane von Fürstenberg, knielang und mit Dreiviertelärmeln, tief ausgeschnitten und mit einem abstrakten Muster in fröhlichem Gelb, Weiß und Schwarz. Nachdem sie ihre Haare geföhnt und sich geschminkt hatte, schlüpfte sie in ihre Riemchensandalen - die mit dem Siebenzentimeterabsatz, nicht die flachen, die sie sonst zur Arbeit trug. Als sie Russell zum Abschied ein Küsschen auf die Stirn gab, hatte er schläfrig einen anerkennenden Pfiff ausgestoßen, doch sobald sie in der U-Bahn saß, kamen ihr erste Zweifel, ob sie sich
nicht vielleicht doch zu sehr in Schale geworfen hatte. Und
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