Ein schicksalhafter Sommer
Dein Sohn, der uns mit seiner Sturheit und seinem mangelnden Sinn für die Landwirtschaft allesamt in den Ruin treibt.“ Sie sah in das blasse, schockierte Gesicht ihrer Schwiegermutter und das erstaunte ihrer Tochter. Luise holte tief Luft. Sie konnte selbst nicht glauben, was sie gerade gesagt hatte. Und im selben Augenblick bereute sie schon, so untreu ihrem Hermann gegenüber gewesen zu sein, und ihre Beschuldigungen laut ausgesprochen zu haben.
Luise war eine treue Seele, und normalerweise ließ sie nichts auf ihren Hermann kommen. Was war nur mit ihr los? Sie konnte ihren Ausbruch nur damit erklären, dass sie mit den Nerven am Ende war. In all den Jahren hatte sie sich unzählige Bosheiten und Beleidigungen von ihrer Schwiegermutter und ihrem Mann anhören müssen, und meist hatte sie alles klaglos hingenommen. Zum einen um des lieben Friedens willen, zum anderen aus lebenslanger Gewohnheit. Bis heute war niemals ein Wort des Vorwurfs über ihre Lippen gekommen, doch auch Luise hatten die letzten Monate zu schaffen gemacht, und jedes Mal, wenn ihr Mann sie wieder so gefühllos behandelte oder ihr mit Verachtung begegnete, gab es ihr einen Stich ins Herz. Selbst ihr dickes Fell und ihre gutmütige Art konnten das nicht immer verdrängen. Jetzt, wo sie ihrem Zorn ein wenig Luft gemacht hatte, ging es ihr etwas besser, sie lächelte ihre Tochter an und nahm sich den nächsten Kohlkopf vor. Robert brachte weiteren Kohl, und als er wieder gegangen war, hatte Wilhelmine ihre Sprache wiedergefunden.
„Da ss du dich nicht schämst, Luise. Machst deinen Mann schlecht und spielst dich hier auf. Hochmut kommt vor dem Fall, sag ich da nur. Warts nur ab.“ Mit diesen Worten schlurfte sie schwerfällig aus der Küche.
Luise bemerkte den Blick ihrer Tochter. „Was ist , Katrin?“
„Nichts, Mama, wirklich. Es passiert nur so selten, dass du mal richtig wütend wirst. Und-“, Katrin stockte, „ich wusste nicht, dass du so denkst. Über Papa, meine ich.“
Luise legte den Kohl wieder aus der Hand und lehnte sich schwer gegen den massiven Tisch. „Das hätte ich nicht sagen sollen, nicht wahr? So über seinen Ehegatten zu sprechen, gehört sich wirklich nicht.“
Auch Katrin hörte auf zu arbeiten. „Ich weiß nicht. Hast du denn gemeint, was du gesagt hast?“
„Oh, ja.“ Niedergeschlagen zupfte Luise an einem Kohlkopf.
„Dann meinst du auch, dass Leute wie Georg Recht haben, wenn sie sagen, Papa sei an seiner Lage selber schuld?“
„Ach, Katrin. Es ist doch letztendlich egal, wer daran Schuld hat oder auch nicht, was meinst du?“
„Ja, du hast ja Recht, Mama. Ich bin nur überrascht. Du hast nie etwas Vorwurfsvolles über Papa gesagt.“
„Und das hätte ich auch besser jetzt nicht getan. Es hätte damals nichts gebracht, und es bringt auch jetzt nichts, weißt du? Außer Streit. Dein Vater ist viel zu stur und von sich selbst überzeugt, um auf die Ratschläge anderer zu hören. Und auf meine schon gar nicht.“ Luise lachte traurig. „Komm, Katrin, wir müssen weiter machen.“
Katrin bückte sich wieder über den Hobel und langsam und nachdenklich begann sie mit dem immer wiederkehrenden Auf und Ab.
Nachdem Hermann das Pferd beim Schmied gelassen hatte, ging er weiter über die lärmende Hauptstraße. Er betrat das Geschäft seines Schwiegersohnes erhobenen Hauptes und erblickte seine Tochter und ihren Mann. Beide standen mitten im Laden und waren in ein Gespräch mit einem Kunden vertieft. Hermann räusperte sich vernehmlich.
„Papa! Guten Morgen“, rief Sofia aus, nachdem sie ihn erspäht hatte. Auch die beiden Männer begrüßten ihn. Der Kunde war Karl Kofer, wie Hermann nun erkannte. „Ja, euch auch einen guten Tag.“
„Ich bin dann auch weg.“ Karl winkte seinem Freund und dessen Frau und blieb vor Hermann noch einmal stehen. „Herr Nessel, ich wollte heute eine Ausfahrt mit Ihrer Tochter unternehmen. Wissen Sie, ob es ihr heute Recht sein könnte?“
„Natürlich, Karl. Wir essen um zwölf. Danach hat Katrin sicherlich Zeit.“ Hermann war ungewöhnlich freundlich. Das lag daran, dass ein Gedanke seine Stimmung plötzlich ein klein wenig gehoben hatte: Hoffentlich sah Arne die beiden, wo er Katrin doch gestern noch ein Techtelmechtel mit Kalter angedichtet hatte. Von wegen unattraktive Tochter. Denen würde er es zeigen.
„Dann bis heute Mittag, Herr Nessel.“ Karl verließ das Geschäft und Hermann trat an den Verkaufstresen.
„Was können wir für dich tun, Papa?
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