Ein Schlag ins Herz
Patrik griff nach seiner Tasche. Was hatte Klaus Funke gemeint, als er sagte, Dominik sei ein Ökomilitanter? Vielleicht war alles doch nur ein Missverständnis. Funke war offensichtlich ein Gefangener seiner Vorurteile und Gefühlswallungen, weshalb ihm die Begriffe durcheinandergerieten. Eine ernsthafte Wissenschaftlerin wie Beate mit Ökoterroristen in Verbindung zu bringen, war weit hergeholt. Und auch dass der blaue Fleck eine Folge von Schlägen gewesen sei, konnte bloße Einbildung sein. Andererseits bewies die geplante Aktion auf der
Sigyn
, dass es sich bei
Live Baltic!
in der Tat um eine radikale Umweltorganisation handelte. Das war es ja auch, wovon sich Patrik angesprochen gefühlt hatte.
Sein Ziel stand ihm kristallklar vor Augen. Jedes Jahr fielen auf der Erde zehntausend Tonnen neuer Atommüll an, und jedes Gramm davon war noch im Jahr 2092 gefährlich, und im Jahr 8156 und im Jahr 86241 immer noch … Den Müll unter der Erde zu verstecken war eine falsche und gefährliche Lösung, unbestreitbar, aus welcher Perspektive man es auch betrachtete. Man musste die Menschen aufrütteln, damit sie das verhinderten, ihre Aufmerksamkeit musste auf diese irrsinnige Entwicklung gelenkt werden. Je mehr er über das Thema nachgedacht hatte, umso mehr war in ihm die Überzeugung gewachsen, dass die Aktion auf der
Sigyn
ein einzigartig effektiver Akt sein würde, geradezu unausweichlich, ein Mittel, der Sache jene Beachtung zu verschaffen, die sie verdiente.
Und als Dominik den
Sigyn -Plan
vorgelegt hatte, war Patrik nach dem anfänglichen Schreck klar geworden, was für eine Chance sich ihm da auch persönlich bot. Es ging nicht nur um die Frage, was Beate gewollt hätte. Endlichkonnte er etwas Konkretes tun, mit dem er wenigstens ein bisschen den eigenen Fehler zu korrigieren vermochte, der ihn vor Jahren aus der Bahn geworfen hatte.
Der Zug hielt vor dem Bahnhofsgebäude an, Patrik öffnete die Tür, stieg aber nicht aus, sondern starrte auf den Asphaltbelag des Bahnsteigs.
Alles konnte ein Missverständnis sein – alles, bis auf die Tatsache, dass Beate und Dominik eine Beziehung gehabt hatten.
»Entschuldigung«, sagte jemand hinter ihm, und Patrik ließ die anderen Reisenden vorbei.
Er sah zu, wie eine junge Frau einen Mann umarmte, der aus dem Waggon gestiegen war. Kurz darauf blies der Schaffner scharf in seine Trillerpfeife.
Als der Zug schon anrollte, trat Patrik auf den Bahnsteig und bemühte sich um eine aufrechte Haltung. Auf dem Parkplatz sah er einen Pkw, den er kannte.
»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, sagte Andrus, der neben dem Wagen stand.
Ohne zu antworten, stieg Patrik ein. Andrus setzte sich ans Steuer und stieß aggressiv aus der Parklücke.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er.
Patrik starrte auf die Menschen vor dem Bahnhofsgebäude und sagte nichts.
»Wo hast du gesteckt? Wir mussten das letzte Training ohne dich machen. Dir ist doch klar, dass du die ganz Aktion gefährdest? Deine Zuverlässigkeit ist infrage gestellt worden. Manche machen sich bereits ernsthaft Gedanken.«
»Ich hatte etwas Privates zu erledigen.«
Andrus fuhr an einer Filiale von Swedbank und einem IC A-Supermarkt vorbei in Richtung Fernstraße.
»In so einer Situation gibt es nichts Privates«, sagte Andrus ausdruckslos.
Nach zehn Minuten Fahrt hielten sie auf einem Parkplatz im Schatten einiger Bäume an. Der Wind frischte auf, in den flachen Wellen einer Bucht schaukelte ein Segelboot. Am Ufer war ein Ruderboot festgemacht, das gerade beladen wurde.
Patrik wusste, dass er im letzten Moment gekommen war. Die Männer bei dem Boot unterbrachen ihre Arbeit, als sie das Auto sahen. Patrik öffnete die Tür und stieg langsam aus. Bronislaw belud weiter das Boot, als wäre nichts geschehen. Bruno sah Patrik herausfordernd an, und Konstantins stopfte sich Nüsse in den Mund, als stellte er sich auf einen Kampf ein.
Dominik, der auf dem Steg gestanden hatte, kam auf das Auto zu.
Patrik spürte, wie die Wut in ihm aufstieg.
Lass ein bisschen Zeit vergehen … Beates Eltern brauchen Zeit … Eines Tages werdet ihr zusammen an Beates Grab stehen. …
Wie lange hatte Dominik geglaubt, ihn täuschen zu können?
»Wo warst du, verdammt noch mal?«, fragte Dominik scharf. Es sah aus, als wäre er unerhört erleichtert und zugleich unerhört böse.
Patrik konnte ihm nicht in die Augen schauen, ohne sich zu verraten.
»Ich war in Deutschland. Ich wollte mit einem Experten für
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